Autor Thema: Chaos...  (Gelesen 711 mal)

gummibaum

Chaos...
« am: Mai 01, 2021, 10:40:55 »
Chaos, du ewiger Urgrund der Welten,
stürze die Ordnung von ihrem Podest,
schlag die kausalen Gesetze, die gelten,
lachend in Stücke und lade zum Fest.
 
Lad die Befreiten, die wirbelnden Teilchen, 
alles, was blieb vom erhabenen All,         
Zeit, die, entfesselt in taumelnden Weilchen,
närrisch herumhüpft.  -  Genieß deinen Ball!
 
Mich aber, der, dir so lange ergeben,
sinnlos im Kreis trieb, lass endlich allein,
denn mich gelüstet, nach vorne zu leben,
stetig auf mich zu - und sinnvoll zu sein…     

Erich Kykal

Re: Chaos...
« Antwort #1 am: Mai 01, 2021, 11:52:34 »
Hi Gum!

Tiefsinnig - der ewige Kampf zwischen Chaos und Ordnung. Leider sind beides sehr "menschliche" Begriffe, geboren aus menschlicher, also unvollständiger, Sichtweise, deren naher Horizont tiefere Einsichten bislang verhindert. Vielleicht werden wir in Jahrtausenden dereinst erkennen, was das Universum antreibt und ausmacht, ob es tatsächlich einen tieferen Zweck dahinter gibt, oder überhaupt irgendetwas.
Bis dahin aber müssen wir uns mit solch ambivalenten Begriffen bescheiden, die einen Widerspruch generieren, wo vielleicht gar keiner sein müsste. Weil der derzeitige Mensch eben leider lieber schwarz/weiß denkt, weil das einfacher ist, sind auch seine Welterklärungsmodelle so gestaltet, von Himmel und Hölle der alten Religionen bis zu Ordnung und Chaos im wissenschftlichen Universum. Immer Gegenpole, die einander ausschließen.
Dabei würde ein Blick auf das Individuum selbst genügen, um begreifen zu lassen, das Gut und Böse, Ordnung und Chaos in jedem sind, und dennoch ein jeder funktioniert, zumindest so weit seine Geisteshaltung und emotionale Reife es im jeweiligen kulturellen Kontext erlauben ...

Die wahrscheinlichere Wahrheit ist: Es existieren keine Gegenpole, keine ins Reine gedachten Extreme einzelner Existenzzustände. Niemand ist NUR gut oder NUR böse, nichts im Universum ist NUR Ordnung oder NUR Chaos. Wahrscheinlich kann das eine gar nicht ohne das andere sein, wäre ohne dauernden Ausgleich gar nicht existenzfähig.
So wie eine Sonne nur im ständigen Gleichgewicht zwischen Gravitation und expandierender Kernreaktion leuchten kann, so ist alles auch in allem und allen.
Allein menschliche Denkkonzepte in ihrer irrigen Beschränktheit führen gegensätzliche Gedankenenden als "logische" Entwicklungsendpunkte an und gestalten ihre Daseinswelten danach - was natürlich genau darum scheitern muss, denn jedes Extrem ist für sich allein nicht dauerhaft existenzfähig, weder matieriell noch ideell.
Es wird nie sündenfreie Menschen geben, die allein den Willen ihres Gottes leben, es wird nie einen funktionierenden Kommunismus geben, oder einen gerechten Kapitalismus - aber auch das Verwerfliche kann sich nie dauerhaft etablieren.
Wenn wir endlich akzeptieren könnten, dass wir immer alles beinhalten werden, und zwar von allem, wäre ein wesentlicher Schritt zur geistigen Mündigkeit getan. Dann wären auch keine behütenden oder leitenden Götter mehr nötig, oder solche, die aus Eigennutz behaupten, in deren Namen zu sprechen, und die bekannte Physik könnte vielleicht endlich ein paar lästige Widersprüche auflösen.

Die Conclusio deines Werkes berührt ein anderes, philosophisches Thema: die Illusion der Sinnhaftigkeit. Einen Sinn, einen Zweck zu haben, scheint ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen zu sein, egal ob er nun einen fremdbestimmten Sinn akzeptiert (Religionen, Politik), um den Einfluss einer Gemeinschaft voranzutreiben (nützliche Ameise), oder sich unabhängig seinen eigenen sucht. Die wenigsten können den Gedanken an eine sinnfreie und dennoch fruchtbare und erfüllende Existenz bewältigen, denn in ihren Köpfen scheinen dies wiederum die (bereits erwähnten) Gegenpole zu sein - was, wie ich selbst weiß, nicht stimmen muss.
Ich für mein Teil führe eine solche Existenz, schöpfe meine Daseinberechtigung aus der Lebensfreude selbst, aus der Dankbarkeit, leben und damit ERleben zu können. Ich weiß, dass alles, was ich bin und werde, mit meinem Tod enden wird, und das ist okay für mich, denn was man wird, ist nur für den Werdenden von Belang, und für jene, die sein Leben und Wirken berührt, und die sich auch davon berühren lassen (was nicht immer eine Wahl ist, wie unterdrückte Ehepartner, Sektenmitglieder oder Soldaten eines Diktators bestätigen können).
So betrachtet braucht man auch den Gedanken an einen wie auch immer gearteten Ruhm für die Nachwelt nicht mehr, muss nicht zwanghaft ein Vermächtnis schaffen. Aber man kann sich natürlich dafür entscheiden, wenn man meint, etwas Gutes damit zu tun - wobei "gut" im Sinne des Betrachters bleibt: Selbst einer wie Hitler dachte, er täte der Welt etwas Gutes mit der Vernichtung der Juden und einer Welt unter deutscher Dominanz. Der Unterschied liegt darin, dass ein von Ruhmsucht und Getriebenheit durch Sinn und Zweck Befreiter kein Bedürfnis verspürt, Machtkonstrukte zu hinterlassen. Am Ende aller Bedürftigkeit steht die Mündigkeit des freien Geistes, in dem Ordnung und Chaos, Gut und Böse sich die Waage halten, und der selbst entscheiden kann, ob überhaupt und und in welches gedachte "Extrem" er sich verfügt, um sich potentiell weiter zu entwickeln - was er aber mit etwas praktischer Vernunft nie tun wird, wenn ihm die obigen Darlegungen erst einmal klar sind.


Vielen Dank für deine schönen Zeilen, die diese Gedankengänge in mir ausgelöst haben!  :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: Mai 02, 2021, 13:27:14 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Chaos...
« Antwort #2 am: Mai 02, 2021, 11:58:59 »
Lieber Erich,

tausend Dank für so viel Weisheit, die ich gern genieße. Ja, der Mensch zwängt die Natur in seine Form der Anschauung, die Gegensätze verlangt und hat mit der Sinnfrage etwas entwickelt, das bei allen Versprechungen von Vervollkommnung vielleicht nur eine weitere Fessel ist.

Sonntägliche Maigrüße von gummibaum