Autor Thema: Dunkle Flecken  (Gelesen 1102 mal)

gummibaum

Dunkle Flecken
« am: April 25, 2021, 21:52:31 »
Mein Gehirn hat dunkle Flecken,
doch ein Knubbel im Gesicht
lässt mich am Geruch entdecken, 
was ich tat und was noch nicht.

Kaffeeduft, im Bad gerochen,   
zeigt, ich drückte schon den Knopf   
und Gestank, es steht seit Wochen   
unterm Bett ein voller Topf.

Schnüffelnd wat ich durch die Tage, 
lese mich in mancher Spur.
Fröhlich stell ich mir die Frage:
Wem nützt das Gedächtnis nur… ?

Erich Kykal

Re: Dunkle Flecken
« Antwort #1 am: April 25, 2021, 22:28:57 »
Hi Gum!

Welcher "Knubbel"?

Ansonsten ein stimmiges Bild, das auch mir zuweilen im Spiegel begegnet: Der isolierte Mensch pflegt sich kaum noch selbst, wird zu faul selbst zum Baden - denn wozu auch, wenn er eh niemandem zu begegnen hat? Mit sich selbst kann man gut so leben, schließlich gilt es ja niemanden mehr zu beeindrucken, nicht mal sich selbst ...  ;)

Gern gelesen!  :)



Am Rande empfohlen: http://www.dielyrik-wiese.de/lyrik-wiese/index.php?topic=8618.0
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Dunkle Flecken
« Antwort #2 am: April 25, 2021, 23:09:32 »
Knubbel: Er hat das Wort "Nase" schon vergessen und beschreibt, was er tastet.

Danke, lieber Erich.

Grüße von gummibaum

 

Sufnus

Re: Dunkle Flecken
« Antwort #3 am: April 27, 2021, 16:54:27 »
Hi gum! :)
Eine eigenartige und beklemmende Vision (im Wortsinn eher das Gegenteil einer Vision), in der die Rückentwicklung eines Individuums beschrieben wird, das dabei trotz schwerster Ausfallserscheinungen in seltsam stoischer Weise eine Art Alltagsroutine aufrecht erhält.
Im Mittelpunkt des Gedichts steht der Verlust des Gesichtssinns (ein alter Ausdruck für den Sehsinn), was in der Handlung ganz wörtlich genommen wird, indem der Protagonist seine eigene Nase als prominentes Merkmal des Gesichts nur noch am Geruch wahrnimmt (man beachte die Doppeldeutigkeit - ist hier die Funktion der Nase als Riechorgan gemeint oder ein von der Nase verströmter Geruch?).
Auf eine beängstigende Art geht mit dem Verlust des Sehvermögens auch eine Verwahrlosung (der ungeleerte Nachttopf) und eine dementiell anmutende Denkverflachung einher, das Wort für "Nase" ist verloren gegangen und das prozessurale Gedächnis schwer gestört (nur der Kaffeeduft verrät dem lyrischen Ich, dass das morgendliche Getränk aufgesetzt wurde).
Dieser Verfallsprozess ist für den Leser verstörend, doch scheint es der Erzählstimme des Gedichts nicht sonderlich aufs Gemüt zu schlagen: "Fröhlich stell ich mir die Frage: Wem nützt das Gedächtnis nur… ?".
Mit dieser rhetorischen Frage endet das Gedicht. Oder sollte die Frage gar ernst gemeint sein?
Sehr nachdenklich gelesen!
S.
« Letzte Änderung: April 27, 2021, 17:42:32 von Sufnus »

Agneta

  • Gast
Re: Dunkle Flecken
« Antwort #4 am: April 27, 2021, 18:58:51 »
ja, mir fiel auch De,menz und einsame Verwahrlosung ein. Bedrückende Zeilen, lieber Gum. LG von Agneta

gummibaum

Re: Dunkle Flecken
« Antwort #5 am: April 29, 2021, 15:26:42 »
Lieber Sufnus,

wie immer bei dir, ein hervorragender Kommentar. Danke.
Ich habe meine sich gelegentlich häufenden Erinnerungslücken weiter gedacht und das LI seinen Leidensdruck durch Entwertung der verloren gegangenen Fähigkeiten kompensieren lassen.

Danke auch dir, liebe Agneta.

LG g

AlteLyrikerin

Re: Dunkle Flecken
« Antwort #6 am: April 30, 2021, 13:58:14 »
Lieber gummibaum,

beim Lesen musste ich sofort an Demenz denken, die Du hier beängstigend real beschreibst. Wenn auch die Metaphern und Bilder nicht unbedingt mit den realen Krankheitsverläufen zusammenstimmen (in Lyrik geht es ja nicht um fotografische Realitätsabbildung), so konstruierst Du doch ein beeindruckendes Bild über ein dementes lyrisches Ich.
Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

Sufnus

Re: Dunkle Flecken
« Antwort #7 am: April 30, 2021, 15:48:12 »
Hi AL!

Ich möchte Deinen Kommentar unterstreichen, aber auch noch einmal darauf hinweisen, dass der wesentliche Punkt des Gedichtes nicht die Schilderung einer Demenz ist (Du weist ja ganz richtig darauf hin, dass hier keine klinische Beschreibung eines typischen Verlaufs gegeben wird).

Nein - um die Demenz geht es hier eigentlich nicht - dann wäre es auch ein ziemlich unsinniges Gedicht, denn was wäre dann wohl "die Botschaft"?
- Dass Demenz ein Problem ist? Banal! Ärgerlich, einem potentiellen Leser dafür Lebenszeit zu stehlen!
- Dass auch ein Demenz-Erkrankter eine sehr hohe Lebensqualität haben und äußerst erfüllt mit der Demenz leben kann? Schon besser, aber in einem Prosatext viel nachvollziehbarer als in einem Gedicht auszudrücken.
- Dass Angehörige von Demenzerkrankten sich auch um Hilfe für sich selbst kümmern sollten? Auch ein wichtiges Thema, aber bitte ebenfalls nicht als Gedicht verfassen - hierfür ist Ratgeber-"Literatur" da.

Also: Der springende Punkt in gums Gedicht ist die "fröhliche" Frage ganz am Schluss und die will keine betuliche Ratgeberrhetorik zum Thema Demenz bieten, die will jeden (auch und gerade nicht-demente Zeigenossen) dazu bringen, einmal darüber nachzudenken, wie unser Denken sich auf das Gedächtnis auswirkt und vice versa. Denn unser Gehirn editiert in hohem Maße unser Gedächtnis und formt es (oft kontrafaktisch!) zu Bildern, die uns genehm sind. Umgekehrt wirkt aber das, was wir in Erinnerungschleifen aus den Untiefen unseres Bewusstseins ans Tageslicht befördern auch wieder auf unser Denken zurück und modifiziert unser Gehirn, bis hinein in nachweisbare strukturelle Veränderungen. Man denke (sic!) an Kästner: "Die Erinnerung ist eine mysteriöse / Macht und bildet den Menschen um... ". Das geht weit über den Bereich der Demenz hinaus.

LG!

S.

AlteLyrikerin

Re: Dunkle Flecken
« Antwort #8 am: Mai 01, 2021, 11:49:30 »
Lieber Sufnus,

sehr schön hast Du den besonderen Kern von gummibaums Gedicht herausgearbeitet. Darin stimme ich Dir völlig zu. Zum Widerspruch reizt mich Deine Ansicht, das Thema Demenz eigne sich nicht für Lyrik. Demenz ist etwas, das in unserer Gesellschaft immer stärker zu tage tritt, und es ist gleichzeitig ein angstbesetztes Thema, das stark verdrängt wird. Vor einigen Jahren hat sich Gunther Sachs erschossen, nur weil er vermutete, er könnte dement werden. Seine Selbstdiagnose war ärztlich nicht bestätigt.
Vor längerem habe ich als ehrenamtliche Sterbebegleiterin einen dementen Mann betreut, der nicht mehr verständlich reden konnte. Stundenlang saß ich an seinem Bett, weil er nicht mehr allein sein konnte. Seine Sprache hatte sich auf das Niveau eines Kindes vor dem Spracherwerb zurückgebildet. Seine Verwandten haben dieses "Sprechen" nicht mehr ausgehalten. Auch ich war zunächst erschüttert, weil ich bisher nur Demente betreut hatte, die in ihrer eigenen, teilweise unzugänglichen Welt lebten, aber mit ihnen war noch eine Kommunikation möglich, wenn man sich auf ihre Sichtweise einlassen konnte.
Meine Erschütterung über den Mann, der seine Sprache verloren hatte, habe ich mir mit den folgenden Zeilen von der Seele geschrieben.

Letzte Fragen

Wenn ich vergesse, wie ich die Welt bewirke,
dass Licht kommt, wenn ich den Schalter kippe,
dass Wasser rinnt, wenn ich den Hahn drehe,
was ist dann noch wirklich?

Wenn keine Wirkung mehr ausgeht von meinem Wünschen,
wenn meine Sprache zerfällt zu Atomen,
die keinen Kosmos mehr finden,
wer wird dann noch hören?

Ich denke, dass diese Zeilen doch Anregung sein könnten, über Demenz und unsere Reaktion darauf nachzudenken. Lyrik kann doch genau das versuchen, Fragen zu stellen und Nachdenklichkeit anzuregen.

Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.