Autor Thema: Am Schneidetisch  (Gelesen 993 mal)

AlteLyrikerin

Am Schneidetisch
« am: M?RZ 16, 2021, 13:52:54 »
Im Film meines Lebens
spielte ich viele Rollen;
aber ich hatte nie die Regie.

Was bleibt noch übrig,
wenn ich die Szenen ausschneide,
in denen ich nur benutzt wurde,
oder an anderen handelte,
als gehörten sie mir?

Noch ist Zeit.
Wer möchte ich gewesen sein,
wenn ich nicht mehr bin?

Sufnus

Re: Am Schneidetisch
« Antwort #1 am: M?RZ 16, 2021, 14:26:19 »
Hi AL! :)

Ich bin ein alter Filmenthusiast (mit starker nostalgischer Einfärbung und Vorlieben für die guten alten Schinken der prä-digitalen Ära). Mithin holst Du mich mit diesem Setting Deines Gedichts voll ab! :) Also schonmal vorweg ein: Sehr gerne gelesen und danke fürs Einstellen der Zeilen! :)

Und nach dem ersten Lesen kommt bei mir unweigerlich die Reflexions-Ebene, anders kann ich gar nicht, und ich überlege mir: wie hat der Autor (Avanti Feminismus - aber mit den Binnensternchen und Schluckauf-Gender-I's kann ich mich nicht so recht anfreunden) das jetzt genau gemacht und warum und wozu und hätte man es auch anders schreiben können... usw...

Und bei diesen Grübeleien, die für mich einen wesentlichen Reiz bei einem literarischen Text ausmachen, komme ich hier zu der Frage, ob dieser Text nicht etwas mehr "Blut" gebrauchen könnte. Die Metapher des Lebens-Films, der jetzt beim Schnittmeister liegt (vom Schnittmeister ist es wahrlich nicht mehr weit zum Schnitter), wird schön eingeführt, aber nicht wirklich ausgeführt. Der Text bleibt relativ abstrakt.

Ich versuche mit einem Gegenentwurf zu erklären, was ich mit "mehr Blut" (im Sinne von größerer Konkretizität) meine:



Ich war beim Film.
Viele Rollen.
Aber nie Regie.

Ich war die schöne Leiche
in der ersten Szene,
das Gesicht in der Menge,
der Mörder mit der Maske,
der Side-Kick des Helden,
Frankensteins Monster,
die Slapstick-Einlage
beim Abspann.

So viele Bilder bis
zum Happy End.

Noch ist der Saal dunkel,
Musik begleitet
die Namen der Hauptdarsteller.
Also: Noch ist Zeit.

Wer möchte ich gewesen sein,
wenn ich nicht mehr bin?


Ich hoffe mit diesem Entwurf (wirklich nur ein grober Impuls, kein fertiger "Verbesserungsvorschlag") wird ungefähr klar, was ich meine: Es lohnt sich eventuell die Menge an "Mitteilungen" im Gedicht etwas zurückzufahren und die Menge an "Bildern" zu erhöhen. Gerade (aber nicht nur) bei einem Gedicht mit filmischem Aufhänger. :)

LG!

S.

AlteLyrikerin

Re: Am Schneidetisch
« Antwort #2 am: M?RZ 17, 2021, 12:32:34 »
Lieber Sufnus,

herzlichen Dank für Deinen ausführlichen Kommentar und den Vorschlag dem Gedicht mehr "Blut" zuzuführen. Dieses Gedicht soll allerdings keine Geschichte erzählen, sondern Reflektionen anstoßen. Bei mir nenne ich das "Gedankenlyrik". Keine Ahnung, ob es so etwas überhaupt gibt. Da müsste ich erst recherchieren.

Bei Erich Fried habe ich allerdings viele solche Gedichte gefunden, z.B.

Gedichte lesen.

Wer
von einem Gedicht
seine Rettung erwartet
der sollte lieber
lernen
Gedichte zu lesen.

Wer
von einem Gedicht
keine Rettung erwartet
der sollte lieber
lernen
Gedichte zu lesen.

In meinem Gedicht behauptet das lyrische Ich in seinem Leben nie die "Regie" geführt zu haben. Was könnte diese Behauptung im Leser anstoßen? Einerseits den Verdacht, da wolle sich jemand der eigenen Verantwortung entziehen, er sei ja nur Mitläufer, keiner, der wirklich etwas festlegen, steuern könnte. Andererseits vielleicht Gedanken über die scheinbare Autonomie der Individuen, über die Illusion alles im Griff zu haben. Vielleicht noch ganz andere Reflektionen, die mir jetzt nicht so stark in den Sinne kommen.
Nun könnte ich auch noch die Gedanken thematisieren, die durch die weiteren Aussagen des Gedichtes provoziert werden könnten. Es geht ja u.a. auch um die Frage der Selbstwahrnehmung und der Inszenierungen, die wir aufführen, um ein bestimmtes Bild von uns zu hinterlassen. Aber das führt jetzt etwas weit. Der Reiz des kleinen Textes soll ja gerade darin bestehen, dass er die möglichen Reflektionen nicht gar zu eng vorstrukturiert.

Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

Erich Kykal

Re: Am Schneidetisch
« Antwort #3 am: M?RZ 17, 2021, 21:10:08 »
Hi AL!

Eine interessante Metapher! als wäre man Schauspieler (und im Optimalfall Regisseur) des eigenen Lebens, den man sich gegen Ende als Film (der Erinnerung) anschauen kann.
Wer hat das Drehbuch geschrieben?

So mancher Akteur versucht, berühmt und als Künstler anerkannt, frühere "Jugendsünden" vom Beginn seiner Karriere still zu beerdigen, weil ihm die damaligen Auftritte nun höchst peinlich sind und seinen Ruf beschädigen könnten. Funktioniert leider kaum je - je berühmter jemand ist, desto nachhaltiger wird nachgegraben.

Dein Gedanke, der Film würde irgendwie erst nach dem Tod des Hauptdarstellers gezeigt werden, quasi als Vermächtnis, (oder jemand gezeigt werden, bei dem es zählt), und der Protagonist könne bis zuletzt daran herumschneiden, um die bestmögliche Fassung zu erschaffen, ist sicher von vielen dringend erwünscht.
Aber ist das noch ein authentisches Leben mit allen Ecken und Kanten, Irrungen und Wirrungen, Verscherungen und Versuchungen, Versagen und Wachstum daraus?

Wer möchte man sein, wenn man nicht mehr ist? Gegenfrage: Was bedeutet dann noch diese Art von Gedächtnis? Was bedeutet es sogar für mich zu Lebzeiten, was der Rest der Welt von mir denkt? Ich weiß, manche sind geradezu besessen davon, den best- oder größtmöglichen Eindruck zu hinterlassen, sich in die Erinnerung der Nachwelt einzuschreiben, mit einem - natürlich! - geschönten und idealisierten Bild von sich.

Was also bleibt, wenn wir alle Szenen entfernen, da wir einander "benutzten"?

Wilhelm Busch hat es am Ende eines seiner Gedichte so ausgedrückt:

Demnach hast du dich vergebens
meistenteils herumgetrieben,
denn sie Summe unseres Lebens
sind die Stunden, wo wir lieben.


LG, eKy

Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

AlteLyrikerin

Re: Am Schneidetisch
« Antwort #4 am: M?RZ 18, 2021, 12:44:53 »
Hallo Erich,

herzlichen Dank für Deine Gedanken zum Text. Ich stimme mit vielen von ihnen überein. Nur bei einem regt sich ein wenig Widerspruch:
Zitat
Was bedeutet es sogar für mich zu Lebzeiten, was der Rest der Welt von mir denkt?
Die Sehnsucht ein Bild zu hinterlassen, eine Erinnerung, die nicht nur negativ besetzt ist, das ist doch bei vielen Menschen vorhanden. Selbst bei jenen, die vorgeben, es sei ihnen egal, was die umgebende soziale Welt von ihnen denkt. Wäre es nicht so, ich würde nicht so viele Menschen treffen, die ausführlich davon erzählen, wie sie ihr Leben sehen. Das müssten sie gar nicht kommunizieren, wenn es bedeutungslos wäre, was das Umfeld von ihnen denkt.

Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

Erich Kykal

Re: Am Schneidetisch
« Antwort #5 am: M?RZ 18, 2021, 16:42:30 »
Hi AL!

Ich habe diesen Satz eher aus meiner Sicht geschrieben - ich bin zu sehr von der Menschheit an sich enttäuscht, als dass ich überhaupt bei solchen Geistern etwas gelten möchte oder muss. Habe mich da wohl zu gründlich abgenabelt. Aber natürlich hast du Recht: Der Mensch an sich ist ein zwar oft nicht sozial handelndes, aber stets ein sozialbedürftiges Wesen.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.