Probleme der traditionellen LyrikIhr Lieben!
Anbei einmal eine kurze Skizze, nicht wirklich zu einer fertigen Conclusio ausgeführt, zu "Problemen der traditionellen Lyrik".
Das ganze ist natürlich mehr als nur ein Echo von Benns "Problemen der Lyrik".
Als Einstieg mal ein Beispiel, wie ein traditionelles Gedicht aussehen könnte, dem ein paar typische poetologische Mishaps unterlaufen:
GleichnisDas kranke Jahr liegt leidend in den letzten Zügen,
es träumt den wunderschönen Traum vom Sommerglück
noch einmal und dann muss sein Mut sich leise fügen.
Nie führt ein Weg zu alter Herrlichkeit zurück.
So gehn auch wir nur einmal durch die Lebenszeiten
und eng und enger wird allmählich unsre Spur,
vorbei sind irgendwann die freien Möglichkeiten.
Es bleibt zuletzt als Trost das alte Glück uns nur.
Ich habe dieses Gedicht entworfen, um aufzuzeigen, wo traditionelle Lyrik den Bereich des Poetischen verlassen kann und ins Schematische und Leblose abrutschen kann, wenn sie nicht aufpasst.
1. Inhaltlich-gedankliche ProblemeIm Bereich der
Gedankenführung ist ein immer wieder kehrender wunder Punkt traditioneller Laien-Lyrik, dass diese ein Bild entwirft (vorzugsweise ein Bild aus der Natur, vgl. Strophe 1 des Beispielgedichts) und dann dem Leser eine Deutung vor den Latz knallt (vgl. die "Übertragung" des Naturbildes in Strophe 2).
Hieraus ergeben sich zwei Schwierigkeiten:
Erstens ist kaum ein Mensch so originell, dass er ständig allgemeingewinnbringende Deutungen und Lehren von sich geben kann... meist kommt da doch recht Banales bei heraus.
Man betrachte z. B. die Trivialitäten, die selbst ein so bedeutender Dichter wie Hesse in seinen Lehrgedichten von sich gibt und die nur durch ihre sprachliche Hochglanzveredelung zu hypnotisieren wissen. Wenn man die "Moral" eines typischen Hesse-Gedichts (z. B. die nicht totzukriegenden "Stufen") mal in normale Sprache übersetzt, bleibt gar nicht so viel Erhellendes übrig: "Wenn irgendwas zu ende geht, dann fängt bestimmt irgendwas anderes neu an... also lass mal den Kopf nicht zu sehr hängen!". Wow!
Das zweite Problem, welches die ständige Deutungssucht von medioker gemachter, traditioneller Lyrik mit sich bringt, besteht darin, dass durch eine fertig fabrizierte Deutung dem Leser eine gedankliche Zwangsjacke angelegt wird.
Vielleicht ist unser Leser ja gar kein ausgesprochener Frühlings- (Heuschnupfen!) und Sommer- (Sonnenstich und modische Entgleisungen allüberall!) Fan... und jetzt wird ihm in obigem "Gleichnis" vorgekaut, dass der wonnigliche Herbst mit seiner herzerfrischenden Neblichkeit ein Sinnbild für das eigene Altern und Absterben ist (was für ein origineller Gedanke - dergleichen hat man ja noch nie gehört!).
Man darf als Autor dem Leser ruhig ein bisschen eigenen Gedankenschmalz zutrauen, er wird den Verfasser dann vielleicht mit schönen Deutungen überraschen, auf die jener im Leben nicht gekommen wär.
2. Sprachliche ProblemeIm Bereich der
Sprache ist ein typischer "Schnitzer", dass Verben sowie Adjektiven/Adverbien zu viel Raum im Gedicht gegeben wird.
Adjektive und Adverbien häufen sich meist aus metrischen Gründen: "Das Jahr liegt in den letzten Zügen" hat zwei Heber zuwenig, also wird das eh schon in den letzten Zügen liegende Jahr auch noch als "krank" und "leidend" deklariert, was angesichts der respiratorischen Agonie als getrost überflüssige Information gewertet werden darf. Dito, dass der Traum vom Sommerglück "wunderschön" war... ja was denn sonst?!
Nun... die Kritik an wuchernden Adjektiven ist nicht neu, aber sie muss immer wieder neu geübt werden, weil die Biester einfach nicht loszuwerden sind.
Fast immer finden sich - etwas Autorenmühe vorausgesetzt - Hauptwörter, die weitaus stärker sind als das Normalo-Substantiv plus blasses Adjektiv: "Greis", "Wrack" oder "Methusalix" ist (jedes auf seine Art) viel wirkungsvoller als "alter Mann" und Herzensveilchen, Rosengalore oder Rabattensau sagen so viel mehr aus als "schöne Blume".... etcpp...
Bei den Verben ist es ein bisschen weniger offensichtlich. Gegen ein schönes Verb ist ja im Prinzip nichts einzuwenden, es gibt viele Verben, die unsere Fantasie zu entzünden wissen. Ein nicht zu unterschätzender Nachteil von Verben besteht aber darin, dass diese Wörtchen aus einem unvollständigen einen vollständigen Satz machen. So wünschenswert aber diese Komplettierung in einem Schüleraufsatz ist, so ist es doch in Gedichten oft ratsam, es bei einem hingetupften Halbsatz zu belassen, den der Leser mit eigenen Sinnbausteinen zu einer fertigen Legofigur zu ergänzen in den Stand gesetzt wird. Achtet mal im Beispielgedicht darauf, dass in jeder Zeile ein Verb (ggf. sogar noch mit Hilfsverb-Unterstützung) vorkommt. Dem Leser wird hier praktisch kein gedanklicher Freiraum gestattet, alles ist vollkommen festgelegt und statisch.
Aber Rummäkeln ist immer leichter als Bessermachen. Also zur Fortführung der Diskussion hier mal ein Beispiel, das sich auch eines regelhaften Reims und geordneter Metrik bedient, aber bei hoheitlichen Deutungen, Adjektiven und Verben Zurückhaltung obwalten lässt.
Natürlich sehe ich schon die Kritiker, die mir vorhalten, dass doch das erste Beispielgedicht viiiiiel "schöner" ist als das zweite. Je nun. Dem habe ich vorab nur zu entgegnen, dass Beispiel Nummero 1 ja auch nicht plump-denunziatorisch verfasst wurde, sondern durchaus mit jener Minimalmühe, die die Fairness gebietet und dass wiederum Beispiel 2 auch nur eine Etüde sein will und soll und kein "eigenständiges", "gelungenes" Poem.
FensterlauneDie Regenakribie,
das Kachelmanngehabe
als Abschiedssinfonie,
ob Schwalbe oder Rabe,
das Jahr wird ausgebrütet:
Azorisch, Westwindtraum,
ein Herzsprung, herbstvergütet
im laubgeschmückten Raum.
Unstrittig ist jedenfalls, dass durch die Auslassung "unnötiger" Adjektive und Verben die Zeilen sehr verknappt werden. Das schadet ganz ohne Zweifel dem Sprachfluss, der Melodie. Allerdings wäre diese Problem durch Zusammenziehungen von Zeilen und neue Reimwörter durchaus zu kurieren. Dafür bin ich jetzt aber zu faul....
Ich hoffe aber zumindest, mögliche Klippen rübergebracht zu haben, die es bei traditioneller Lyrik zu umschiffen gilt.