Autor Thema: Webwerk  (Gelesen 777 mal)

Erich Kykal

Webwerk
« am: Dezember 30, 2020, 12:50:56 »
So wie des Teppichs Muster ihm besiegelt,
wie andere ihn schauen und begreifen,
so wird ein Bild von dir in andern reifen,
und wird von dort zu dir zurückgespiegelt.

Du kannst dein wahres Webwerk wohl verbergen
für eine Zeit lang unter Staub und Schatten,
dem Zahn der Zeit und dem Verbiss von Ratten,
sowie dem falschen Wort von tumben Schergen.

Doch immer kommt der Tag, da jene sehen,
aus deren Urteil sich dein Wohl ermächtigt,
in welchem Bett dein wundes Sehnen nächtigt,
und ohne Wort aus deinem Leben gehen.

In diesem Wissen wirst du dich bescheiden
mit einer Einsamkeit, an der du reifen
und wachsen magst an innerem Begreifen
und stiller Demut um dein trautes Leiden,

und weiter dich verweben hier auf Erden,
wirst Dunkelheiten deiner selbst bekriegen,
und unter Opfern gar dich selbst besiegen,
und unvergleichlich darf dein Muster werden.
« Letzte Änderung: Dezember 30, 2020, 18:28:38 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Rocco

Re: Webwerk
« Antwort #1 am: Dezember 30, 2020, 22:46:25 »
Guten Abend Erich,

ein kompaktes Werk lese ich hier, fast wie in Stein gemeißelt.

Im weitesten Sinn spricht das Lyrik. Ich über Vorurteile, die sich, wenn nachgeprüft, bestätigen oder auch nicht.

Die beiden letzten Strophen drücken eine gewisse Unsicherheit aus: man kann an der Einsamkeit reifen, ähnlich wie Robinson auf seiner Insel, der vom Lebemann zum ernsten Mann reifte.

Nur ein kleiner Einwand: die tumben Schergen können alles zerstören. Heißt: jeden vernichten. Man überlege nur, was Lügner und Hetzer im Netz für Schaden anrichten können. Da gehen Existenzen kaputt!

Anregender Text!

Dir einen guten Rutsch (auch an das restliche Forum!)

Rocco
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Erich Kykal

Re: Webwerk
« Antwort #2 am: Dezember 30, 2020, 23:05:05 »
Hi Rocco!

Mit den tumben Schergen sind jene gemeint, die Gefälligkeitsurteile verbreiten, vom LyrIch bestochen oder manipuliert. Das Englische nennt sie "Yesmen", "Henchmen" oder "Minions".

Das Gedicht spricht an, dass wir gern Bilder von uns entwerfen, die uns geschönt zeigen, oder Missliebiges verbergen sollen. Von jenen, die das am besten beherrschen, heißt es hinterher immer: "Er war doch so nett und immer höflich - dem hätte ich das nie zugetraut!"
Letztlich ist es aber immer nur eine Frage der Zeit, bis man entweder das Bild selbst nicht mehr aufrecht erhalten kann, oder anderweitig auffliegt - ein Trump kann selbst der eigentlich ihm geneigten Mehrheit der Nation/Welt nicht ewig vormachen, er sei ehrlich, rücksichtsvoll, kompetent und selbstlos um andere bemüht.

Okay, ein krasses Beispiel, aber es veranschaulicht das Prinzip. Wer ausreichend Lebensweisheit gesammelt hat, wird sich also irgendwann von solchen Oberflächlichkeiten des Geltungsdranges abwenden.

Vielen Dank für deine freundlichen Zeilen und deine Gedanken!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Webwerk
« Antwort #3 am: Dezember 31, 2020, 09:12:48 »
Lieber Erich,

du hast im Kommentar deine Absicht hinter dem Gedicht verdeutlicht, aber ich glaube, dass es auch einen allgemeinen Modus ausspricht: wir sehen und geben uns nie unabhängig von den Bildern, die andere von uns haben.

Solche Bilder "reifen" oft gar nicht, sondern sind sofort fertig, weil der Sehende seine eigene Sichtweise mitbringt und nur das abgreift, was hineinpasst.

Ich habe zu Thema und Gedicht noch einiges mehr zu sagen, komme darum vielleicht nochmals darauf zurück (zum Beispiel hat es gestern animiert, nepalischen Kindern beim Teppichknüpfen zuzusehen).

Im Moment nur noch ein WOW (da ich zum Bhf. muss).

Liebe Grüße von gummibaum



 



 

Erich Kykal

Re: Webwerk
« Antwort #4 am: Dezember 31, 2020, 14:14:24 »
Hi Gum!

Es hängt davon ab, von welcher Warte her man den Vorgang betrachtet: Vom LyrIch her, das - komplexbeladen verunsichert oder böswillig manipulierend - ein bestimmtes Bild in anderen erzeugen will, oder von der Oberflächlichkeit der Menschen her, die zwar von sich selbst wissen müssten, wie vielschichtig der Mensch ist, aber dennoch immerzu versuchen, ihr Gegenüber in eine möglichst kleine, übersichtliche Schublade zu zwängen!  ::)

Beides zusammen nennt sich dann "Gesellschaft", getragen von floskelhafter Höflichkeit, aufgesetzter Nettigkeit und anerzogenem Respekt - damit wir nicht sofort wütend übereinander herfallen und uns die bornierten Schädel einrennen, weil wir einander mehrheitlich unerträglich finden!  ;) ;D >:D

Vielen Dank für deine freundlochen Worte und die zusätzliche Deutungs-Facette!  :)

LG, eKy
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Agneta

  • Gast
Re: Webwerk
« Antwort #5 am: Dezember 31, 2020, 18:31:45 »
"so wie des Teppichs Muster ihm besiegelt...."
- das Bild, das andere sehen, sehen wollen, sehen müssen, weil sich jemand verstellt. Es ist eine Interaktion- Bildhafter und Sehender. Ähnliche Gedanken hatte ich auch schon, Erich. Nur eben dieser obige Satz, das Besiegeln, das sehe ich nicht so. jeder Mensch hat immer wieder die Möglichkeit, sich anders zu geben, sich tatsächlich zu verändern, sein Bild zu verändern. Solange er in Kontakt bleibt.
Er muss es aber auch wollen.
Ein sehr eindrückliches Werk, das ich toll finde.
LG von Agneta

Erich Kykal

Re: Webwerk
« Antwort #6 am: Dezember 31, 2020, 19:58:34 »
Hi Agneta!

Richtig, man kann sich immer verändern, man tut es sogar automatisch im Laufe des Lebens, ob man will oder nicht - aber sag selbst: wie viele jener oberflächlich Seichten oder komplexhaft Getriebenen schaffen es tatsächlich, ihr Bedürfnis nach gesellschaftlicher Anerkennung und Respekt zu überwinden und offen zu ihren charakterlichen Defiziten zu stehen? Einer wie Donald Trump zB gewiss nicht! Der wird selbst auf dem Totenbett noch lauthalsend leugnen, je gelogen zu haben, um andere zu manipulieren, zu übervorteilen, zu verdammen, zu beschädigen oder abzuhängen!

Was mir aber beim Schreiben eher vor Augen stand, war das "kleine" Alltagsgelüge öffentlichen menschlichen Umgangs, oder das Aufbauen von Charakterkulissen, um einen begehrten Partner oder nützlichen Freund von sich zu überzeugen. Die kleinen Verderbtheiten, die uns meist gar nicht als solche zu Bewusstsein kommen, weil wir sie praktisch automatisiert anwenden, so selbstverständlich wie Atmen, um uns in bestmöglichem Licht zu präsentieren. Viele betrachten dies nicht mal als Lüge oder Betrug, und manche reden sich ihre Illusionen so nachhaltig ein, dass sie am Ende selbst noch dran glauben, tatsächlich so toll zu sein wie irgendwann zusammenphantasiert ...

Was beweist, dass unsere sogenannte Realität sich nur in unseren Köpfen abspielt ...  ::)

LG, eKy

« Letzte Änderung: M?RZ 30, 2021, 11:53:25 von Erich Kykal »
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Agneta

  • Gast
Re: Webwerk
« Antwort #7 am: Januar 01, 2021, 10:57:16 »
ja, so hatte ich es auch verstanden, Erich. Darfum sprach ich von der Selbstdarstellung.Die "kleine Alltasgslüge" zum persönlichen Vorteil. ich bevorzuge, wie du weißt, klare Worte ;D.
LG von Agneta