Autor Thema: Soviel  (Gelesen 693 mal)

Erich Kykal

Soviel
« am: November 30, 2020, 13:23:30 »
Soviel Welt, ihr zu begegnen,
soviel Menschen, unverstellt,
soviel Zeit, den Traum zu segnen,
der mein Fernweh aufrecht hält.

Soviel Wege zu beschreiten,
soviel Ziele, unerreicht,
soviel Leben in den Weiten
dieser Erde, das mir gleicht.

Soviel anderes zu finden,
soviel Neugier, die mich lehrt.
Doch die Pflichten, die mich binden,
halten meinen Geist beschwert.

Binden mich an kleine Jahre,
an ein Dauern in Verzicht.
Soviel Lust aufs Wunderbare -
doch mein Leben folgt ihr nicht.
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Soviel
« Antwort #1 am: November 30, 2020, 18:22:33 »
Lieber Erich,

die meisten Gedichte, die ein bestimmtes Wort ständig wiederholen, finde ich langweilig. Aber hier ist es anders. Einmal, weil dem Wort "Soviel" wirklich jedesmal etwas Neues folgt und dann, weil ab dem "Doch" klar wird, dass dieses Wort gegen die Realität (Pflicht) nichts ausrichten kann, sich umsonst abmüht, und so nimmt es sich auch immer mehr zurück und verstummt schließlich.

Der Leser leidet an der Verzweiflung mit.

Sehr gern gelesen.
Grüße von gummibaum

 

Erich Kykal

Re: Soviel
« Antwort #2 am: November 30, 2020, 20:28:33 »
Hi Gum!

Danke, dass es dir gefällt. Das Wiederholen als Mittel zur Intensivierung, als Beschwörungsformel, als Mantra, oder als Verkörperung von Trott, Gewohnheit oder Ausweglosigkeit - ob in positver oder negativer Weise, dieses Mittel kann große lyrische Wirkung erzielen.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Soviel
« Antwort #3 am: Dezember 03, 2020, 10:27:20 »
Hi eKy!

Ja Deine sehnsuchtsvoll die Unerfülltheit umkreisenden (ich komme gerade von der Astronomie nicht los) Zeilen entfalten einen Beschwörungston, bis sie dann in der letzten Zeile in Resignation enden. Mir persönlich hätte hier übrigens auch eine Sonettversion sehr gut gefallen! Erstens weil das natürlich immer eine schöne Form ist und zweitens weil die Verkürzung von 16 auf 14 Zeilen eine stärkere Offenheit zum Ende hin erzeugen würde.

Ich denke, Dir kam es (und kommt es meist) beim Schreiben gerade auf eine Abgeschlossenheit an - Du "baust" ja Deine Gedichte mit besonderer Vorliebe wie ein fertig ausgestaltetes Werkstück. :)
Ob Du wohl in der bildenden Kunst ebenso das Abgeschlossene, "Fertige" suchst? Wie stehst Du da zum Fragment und Non-finito bei Gemälden oder in der Bildhauerei? Also solche Sachen wie da Vincis "Burlington House Cartoon", Rodins "La Pensée"(nicht mit dem "Penseur" zu verwechseln), Cézannes "Winterlandschaft, Giverny" oder Hokusais "Kōshū Kajikazawa" mit dem detailliertem Vordergrund vor einem fast leeren Hintergrund?

Auf alle Fälle hier mal die Sonett-Fassung (in elisabethanischer Zeilenaufteilung) zur Veranschaulichung :) :


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Soviel Welt, ihr zu begegnen,
soviel Menschen, unverstellt,
soviel Zeit, den Traum zu segnen,
der mein Fernweh aufrecht hält.

Soviel Wege zu beschreiten,
soviel Ziele, unerreicht,
soviel Leben in den Weiten
dieser Erde, das mir gleicht.

Soviel anderes zu finden,
soviel Neugier, die mich lehrt.
Doch die Pflichten, die mich binden,
halten meinen Geist beschwert.

Binden mich an kleine Jahre,
Soviel Lust aufs Wunderbare...

----------------------------------------

LG!

S.
« Letzte Änderung: Dezember 03, 2020, 10:36:11 von Sufnus »

Erich Kykal

Re: Soviel
« Antwort #4 am: Dezember 03, 2020, 13:39:26 »
Hi Suf!

Das wäre allerdings ein extrem "experimentelles", unorthodoxes Sonett - kurzzeilig, mit betontem Auftakt, die Hälfte der Kadenzen männlich.

Zudem wäre mir die Conclusio deiner Version zu jäh und sprachlich wie in der Aussage zu unentwickelt, um zu befriedigen. Man fragt sich unvermittelt, was denn nun mit dieser Lust auf Wunderbares sei, aber da bricht der Text einfach ab.

Ich werde sicher nicht deine ständig im Übermaß bewiesene lyrische Kompetenz in Abrede stellen, aber hier, denke ich, liegst du daneben mit deinem Sonettgedanken.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
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Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Soviel
« Antwort #5 am: Dezember 03, 2020, 14:20:08 »
Hi eKy!

Mein Sonett war natürlich nicht als Verbesserungsvorschlag gemeint, sondern sollte Dich etwas "kitzeln", in dem es Dich mit einer offeneren (Du schreibst: jäh und unentwickelt) Variante konfrontiert. Da Deine Poetologie zum Abgeschlossenen und in sich Ruhenden strebt, kannst und sollst Du das natürlich nicht übernehmen - nur über den alternativen Ansatz reflektieren und dann gerne bei Deiner Herangehensweise bleiben. :)

Das wäre allerdings ein extrem "experimentelles", unorthodoxes Sonett - kurzzeilig, mit betontem Auftakt, die Hälfte der Kadenzen männlich.

Beim Stichwort "experimentell" muss ich allerdings widersprechen. Schon bei Shakespeare, also noch in der relativen "Frühzeit" der Form, findet sich auch ein verkürztes, vierhebiges Sonett (Nr. 145) und Puschkin hat im 19. Jh. die Vierhebigkeit dann in der nach ihm benannten Variante zur Regelform erklärt (Puschkin- oder Oneginsonett). Auch Trochäen anstelle von Jamben finden sich sehr früh: Gryphius hat bereits im 17. Jh. ein Sonett aus Achthebigen (!!!) Trochäen geschmiedet (Ewige Freude der Auserwählten). Also um als experimentell, gar "extrem experimentell", zu gelten, muss man in Sachen Sonett schon schwerere Geschütze auffahren. ;)

LG! :)

S.

Erich Kykal

Re: Soviel
« Antwort #6 am: Dezember 03, 2020, 23:48:07 »
Ich sehe mich belehrt und beuge demütig das Haupt vor dem größeren Wissen!  :)
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
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