Hi AL!
Im Gegensatz zu eKy erfreue ich mich sehr an ungereimten und metrisch freien Kurzformen und zähle diese auch durchaus zur Lyrik - das ist ein weites Feld, auf dem es sich trefflich streiten lässt, und ich würde einen Streit - oder sagen wir mal besser: einen freundlichen, zugewandten und interessierten Diskurs auch nicht zum verzichtbaren, fruchtlosen Unterfangen erklären.
Natürlich müssen sich all jene (also auch ich), die nicht Reim und/oder metrisch gebundene Sprache zum definierenden Element von Lyrik erklären, die wichtige und schwierige Frage gefallen lassen, was denn dann die Definition von Lyrik ist. Die Kürze eines Textes alleine eignet sich meines Erachtens nicht so sehr zur Begriffsbestimmung, weil erstens manches Gedicht, das sich für mich unzweifelhaft wie Lyrik "anfühlt", doch recht lang ist und mich zweitens viele Textgattungen, die sich durch ihre Kürze auszeichnen, ganz ohne lyrische Anmutung zurücklassen.
Ich denke, hierzu werde ich mich andernorts an Auszulassungen versuchen und will jetzt doch lieber auf Deinen Text zu sprechen kommen.
Hier ist muss ich zunächst an einen Goethevers denken:
Nun weiß man erst, was Rosenknospe sei,
Jetzt, da die Rosenzeit vorbei;
Ein Spätling noch am Stocke glänzt
Und ganz allein die Blumenwelt ergänzt. Dabei macht es der Alte natürlich uns allen schwer - wenn man nur noch bedichten wollte, was bei Goethe nicht schon das Herz zu erfreuen wusste, bliebe ja nur noch, über Smartphones, Gentechnologie und die bemannte Marsmission zu schreiben. Also ist es wohl gut und richtig, sich auch in den Fußstapfen des Geheimrats zu tummeln. Ich will mit dem Vergleich aber auf etwas ganz bestimmtes hinaus: Bei G. wird nur angedeutet, aber nicht ausgedeutet. Der Vergleich von Rose- und Menschengeschick ist nicht notiert, nur impliziert. Wenn ich das lese, fühle ich mich frei, kann die Zeilen, ob hortologisch, ob ontologisch, in vielerlei Windrichtungen geistig fortschreiben. Ich kann Trauer empfinden, aber auch Trost, ja sogar Rührung.
Dein Gedicht spricht mich durchaus auch an - sehr sogar.
Und die Wendung vom erwarteten Wunder ist gar grenzgenial. Mindestens.
Aber für mich ist die zweite Strophe dann so furchtbar eng. Sie reizt mich irgendwie zum Widerspruch - aber ich käme mir dumm vor, wollte ich etwas dagegen sagen: "Nein! Angesichts des nahenden Winters noch Energie in blöde Blütenträume zu verschwenden, ist frivol und verantwortungslos!" - wer so etwas von sich gibt - wie steht der denn da? Ein engherziger, bitterer Scrooge, mit dem wohl zu recht niemand, der noch ein Herz in der Brust schlagen fühlt, ständigen Umgang pflegen wollen könnte! Und daher fühlt sich die zweite Strophe für mich persönlich nach einer gedanklichen Zwangsjacke an. Doch wenn ich dem Rat nun folgte und knospte in den Winter hinein und stünde dann belämmert vor dem erfrorenen Blütenmatsch, wie ginge es dann weiter?
Also tatsächlich - jetzt bin ich wirklich im Scrooge-Modus gelandet und ein kleines bisschen habe ich den Verdacht, aufgrund aktueller globaler Wetterverhältnisse heute nicht so recht empfänglich für den (für mein Liking) etwas allzu eindeutigen Zuspruchsgestus Deiner Zeilen zu sein, liebe AL. Ich bin hier also wohl etwas ungerecht und sollte womöglich einfach auf die Delete-Taste drücken. Aber viel besser ist es doch vielleicht, hier hinzuschreiben, dass meine Ausführungen als zugespitzte Diskussionsgrundlage zu verstehen sind, nicht aber als finales Verdikt - schon gar nicht für die Allgemeinheit gesprochen, aber noch nicht einmal zur Gänze für den Sufnus.
LG!
S.