Autor Thema: Die Corona-Nörgelei, ein Denkanstoß  (Gelesen 835 mal)

Agneta

  • Gast
Die Corona-Nörgelei, ein Denkanstoß
« am: Januar 30, 2021, 13:05:35 »
Die Corona-Nörgelei , ein Denkanstoß

Ja, Corona hat uns aus unseren gewohnten Bahnen  und in eine gefühlsmäßige Eiszeit geworfen. Es ist eine Kraftanstrengung für alle. Für die Politik, die Wirtschaft, die Menschen im Alltag. Und dennoch: Macht es uns nicht auch bewusst, was uns im Leben wirklich wertvoll ist und wie oft wir nörgeln um Kleinigkeiten, Banalitäten?
Da streitet man sich mit dem Partner, den man doch liebt, weil er den Müll nicht raus bringt, weil sie sein Lieblingsessen nicht kocht. Was aber, wenn der Partner auf einmal nicht mehr da ist oder wenn die Gefahr besteht, dass es so wäre?
Corona rückt gefährlich nahe. In meinem Umfeld breitet sich die Mutante aus. Sicherlich machen wir alles, was vorgeschrieben ist. Haben uns sogar Tests gekauft, damit wir nicht auf Besuch von Enkelchen verzichten müssen. Für richtig viel Geld. Corona zeigt uns, wo unsere Prioritäten liegen, was uns wirklich wichtig ist im Leben.
Wir hatten alles. Urlaube, Essen gehen, wann immer man will, Feiern und gesellig sein - aber es war uns selbstverständlich.
 Im Bekanntenkreis ist jetzt ein Feuerwehrmann erkrankt und seine Familie mit. Einer, der immer hilft und immer da ist. Sein Baby kämpft ums Überleben und die Mutter geht mit ihm ins Krankenhaus, wohl wissend, dass sie es dort auch bekommen kann. DAS sind Schicksale, die berühren. Die demütig machen. Mich zumindest. Wie nichtig  ist es dagegen, dass man nicht mehr schön beim Italiener sitzen kann und seinen Cappuchino trinken? Wir alle haben das Verzichten verlernt und nörgeln auf hohem Niveau. Ich trage gerne noch länger Maske, wenn dadurch im Zweifalle auch nur ein einziges Kind gesund bleibt.
Wir alle haben Verantwortung für den anderen, Mitleiden verlernt. Sind in unserem Wohlstand satt und undifferenziert geworden. Eine Arbeitsstelle ist nicht selbstverständlich, Viele sind auch vor Corona unverschuldet arbeitslos geworden, Ein Haus ist nicht selbstverständlich. Viele leben mit fünf Leuten auf sechzig Quadratmetern. Nicht mal Essen ist in diesem reichen Land selbstverständlich. Auch hier gibt es viele Arme, deren Haushaltskasse schon vor dem Monatsende leer ist. Nicht immer sind das nur Alkoholiker und Arbeitsscheue.  Immer also müssen wir den Supergau grundsätzlich im Leben mit einkalkulieren.
Wenn man sich solche Gedanken macht, dann kann man Corona besser verdauen. Das Leben läuft nicht immer gerade und wirft einem manchen Stein vor die Füße. Manchmal auch auf den Kopf. Was man dann mit dem Stein macht, das muss jeder selbst entscheiden. Die Dinge des Lebens ändern sich für jeden persönlich nur, wenn er den Blick darauf ändert.

Rocco

Re: Die Corona-Nörgelei, ein Denkanstoß
« Antwort #1 am: Januar 30, 2021, 13:56:18 »
Hallo Agneta,

ein Denkanstoß ist immer gut. Ich kann mir vorstellen, dass die Gesellschaft vor einem grundlegenden Umbruch steht. Ich meine damit nicht Corona allein! Vorher gab es die Schweinepest und die Hühnergrippe.

Es kann sein, dass wir den Anfang einer neuen Zeit erleben, einer Zeit der Pandemien. Warum sollte nach Corona keine weitere Pandemie kommen?

Ein Bekannter ist Chinese, für ihn ist es normal, dass er mit Schutzmaske aus dem Haus geht. In seinem Ort ist alles voller Smok. Und das seit Jahren.

Gewohnheiten sind ein gutes Stichwort. Was aber ist mit der Wahrnehmung? Wie viele Gewohnheiten nehmen wir an, weil wir Dinge ausblenden?

Man spricht immer von der "guten alten Zeit", wann aber war die?

Da ich nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurde, fällt mir auf: Es trifft immer zuerst die Armen. Wer Geld hat, kann in ein Villen-Viertel ziehen. Da gibt es keine sozialen Probleme. Und der Rest?

Ich selbst störe mich an Nörgeleien kaum - warum auch? Jeder nörgelt mal.

Warum arbeiten die Staaten aber nicht besser zusammen? Warum bekommen manche Länder mehr Impfstoffe und andere nicht?
Wenn - in Zukunft - weitere Krankheiten ausbrechen, müsste man dann nicht grundlegend umdenken?

Das sind Fragen, die mich bewegen. Wer glaubt, nörgeln zu können, kann das tun. Es wird ihm aber kaum helfen.

Noch was zum Thema Wahrnehmung: Saudi-Arabien führt derzeit Krieg gegen Jemen. Hört man was davon? Ja, Corona ist wichtig, man sollte es nicht verharmlosen. Ich kann mir aber vorstellen, dass Menschen, in Jemen, gerade andere Sorgen haben. Und uns im Westen kümmert es nicht. Wir regen uns darüber auf, ob Masken ein Eingriff in unsere Grundrechte bedeuten.

Soweit erst einmal.

Danke für den Denkanstoß.

Rocco
« Letzte Änderung: Januar 30, 2021, 14:01:08 von Rocco »
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Erich Kykal

Re: Die Corona-Nörgelei, ein Denkanstoß
« Antwort #2 am: Januar 31, 2021, 13:22:33 »
Hi Agneta!

Gute Gedanken machst du dir da! Das trifft eine der schrägen Theorien, die ich mir so nebenbei mal ausgedacht habe, natürlich ohne Anspruch auf tatsächliche Wahrheit:

Ich habe gemutmaßt, dass wir den Wert des Lebens vor allem deshalb schätzen lernten, weil wir den Wert des eigenen Lebens erfahren durften, abgesichert durch die Segnungen moderner Medizin, Hygiene und Wissen.
War früher das eigene Leben ständig bedroht durch Krieg, Hunger, Krankheit, durch Glaubensdoktrin und Aberglaube entwertet. So war es leicht, andere für Kleinigkeiten zu verdammen und hinzurichten. Und man empfand es als rechtens: Hatte man deinen Unschuldigen erwischt, hatte man dessen reine Seele bloß früher zu Gott geholfen. Das Leben des Einzelnen war nicht viel wert, natürlich außer man war reich, adelig oder mächtig!

Heute sind wir alle das, zumindest verglichen mit den Zuständen im Mittelalter! Wir leben sauberer und sicherer als jeder Reiche, Adlige oder Mächtige damals - und wie damals jene haben wir gelernt, das eigene so wohl abgesicherte Leben wert zu schätzen. Und genau dadurch fanden wir zur Prämisse, dass das Leben ALLER wertvoll sei, schafften die Todesstrafe ab, sorgten für (relative) Gleichberechtigung von Bürgern, Frauen und Kindern, machten die Barmherzigkeit für Bedürftige zur Staatsaufgabe, versicherten uns mit dem Rundum-Sorglos-Paket und fühlten uns wohl.

Aber sind wir wirklich "menschlicher" geworden im humanen Sinne? Oder möchten wir nur deshalb kein Elend sehen, um uns selbst die Illusion erhalten zu können, dass alles okay ist? Sind wir wirklich sozialer als in früheren Zeiten, oder verbergen wir uns nur hinter einer Fassade, weil wir für Wohlstand und Sicherheit bereit sind, nach gewissen Regeln zu spielen, um unserer Kultur den Anstrich (und damit die Rechtfertigung gegenüber früheren Systemen) moderner Menschlichkeit zu verleihen?

Wir tun gern so, als wären wir im Vergleich zu früher die besseren, sozialeren, höherstehenden Wesen - aber wir sind es nicht wirklich. Bedroht etwas die Illusion von der geheiligten Selbstkontrolle und dem goldenen Kalb der "freien Wahl", werden wir ganz schnell wieder zu egomanischen Raffern, Pöblern und Geiferern! Da steht uns das Eigenwohl plötzlich wieder dermaßen deutlich und für alle wahrnehmbar näher, dass die so gern gehegte Illusion zerbrechen muss. Dann regiert wieder der Starke, und der Schlaue schmiert ihm Honig ums Maul! Dann gelten wieder Parolen und einfache Welterklärungen, dann gibt es wieder "die" und "uns", und jemand besonders Bösen oder Minderwertigen, dem man für alles die Schuld geben kann!

An "alle" denken wir nur, wenn es allen gut genug geht (oder es zumindest so aussieht), wenn man nicht das Gefühl haben muss, zu kurz zu kommen. Und leider ist es so: Je länger wir uns sicher, und je sicherer wir uns gefühlt haben, wegen desto geringerer Einschränkungen beginnen wir unsere wahre Natur zu zeigen! Je gewohnter wir unsere Illusion von umfassender Ordnung waren, umso leichter werfen wir alles über Bord, längst vergessen habend, was es bedeutet, auf die über Jahrhunderte hart erkämpften Rechte zu verzichten. Erschreckend, wie wenig Angst genügt, um eine Zivilisation zu kippen, weil die kleine, persönliche Welt eben immer noch jederzeit wichtiger ist als die große Gerechtigkeit und Gleichstellung für alle!

Kleine Geister ziehen kleine Kreise um sich, befangen im Irrtum, dass der Kreis stabiler und undurchdringlicher sei, je enger sie ihn ziehen!


Sehr gern, aber inhaltlich mit großem Bedauern gelesen!  :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: Januar 31, 2021, 13:34:11 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Die Corona-Nörgelei, ein Denkanstoß
« Antwort #3 am: Januar 31, 2021, 20:30:31 »
Hi Rocco,
vielen dank für deine ausführlichen Überlegungen zu meinen Gedanken. Ja, die Welt verändert sich immer. Der Umgang von Menschen auch. ich erinnere mich gut an den Schock, als wir in der differenzierten Oberstufe ( die erste in Deutschland) auf dem Gümmi aufgefordert wurden, die Werke, Aufsätze unserer Mitschüler zu bewerten und zu kritisieren. Mit widerstrebte das sehr, weil ich es sehr unangenehm fand und der Ansicht war, dass das Sache des Lehrers sei. Wie kann  man das Werk eines Klassenkameraden beurteilen ohne ihn zu verletzen, ohne ihn zu übervorteilen? persönliche Animositäten kamen da zum Vorschein, wurden offen ausgetragen bis hin zum Streit. Konkurrenzkampf, der wenig motivierend war, trat auf. da ,meine Werke immer sehr gut waren, hatte ich mit der Beurteilung keine Probleme, jedoch andere zu beurteilen wollte ich nicht.
Dieses Prinzip, Menschen gegeneinander aufzuhetzen, setzte sich im Berufsleben fort. Couchings, Meetings, endlose, hirnlose Besprechungen, wo jeder seinen Senf dazu gibt, machten das Arbeitsklima kaputt. Also suchte ich mir Stellen, wo die Rangfolge klar war und auch klar blieb, bis hin zur Selbstständigkeit.
Empathielosigkeit wurde also über Jahrzehnte eingeübt und hat sich nun erfolgreich etabliert.

Ich weiß nicht, ob wir humaner geworden sind, lieber Erich. Jeder hat seine Wurzeln und wer aus einfachen Verhältnissen kommt wie ich damals, der kannte noch Nachbarschaftshilfe, teilen und menschliches Miteinander. dennoch lernte man auch, seine Dinge zusammenzuhalten. Im Grunde ist der Mensch nicht human. Er stammt vom Affen ab, sorgt für seine Familie und der Rest... ich nehme mich da nicht aus. Es fällt mir leicht, Menschen zu bedenken, die ich mag, aber schwer bei denen, die ich nicht mag. Und es gibt für mich auch keinen Grund, es anders zu tun. Letztendlich weiß ich genau, diese Menschen würden für mich auch nichts tun. Alles andere wäre christliches Gesäusel von Nächstenliebe.
Ich hatte sehr viel Spielzeug gekauft für den Enkel, das noch vergessen im Schrank lag. Als ich hörte, dass viele Familien kein Geld haben, Weihnachtsgeschenke für ihre Kinder zu kaufen, habe ich all das neue Spielzeug an den Kleidercontainer gestellt. Ich hoffe, dass es die genommen haben, die es brauchten und nicht jemand es jetzt bei Ebay verkauft. Aber kann ich sicher sein?
Das heißt aber nicht, dass ich das jetzt immer so mache.
Gerechtigkeit für alle gibt es nicht, Erich. es gab sie nie und es wird sie nie geben. man muss halt sehen, dass man durchkommt. :)
"Kleine Geister ziehen kleine Kreise um sich, befangen im Irrtum, dass der Kreis stabiler und undurchdringlicher sei, je enger sie ihn ziehen!"- das ist ein guter Aphorismus von dir, dem ich mich gerne anschließe.
Lieben Dabnkl euch beiden und lG von Agneta


Erich Kykal

Re: Die Corona-Nörgelei, ein Denkanstoß
« Antwort #4 am: Februar 01, 2021, 11:36:19 »
Hi Agneta!

Der Mensch ist ein unberechenbares Konglomerat aus Egoismus und Nächstenliebe. Ein Individualist und ein Herdentier zugleich, Räuber oder Retter! Und das nicht nach Einzelpersonen unterscheidbar, sondern allein schon innerhalb eines einzigen Charakters!

Ständig widerstreitende Bedürfnisse, Triebe, Prägungen, Auffassungen, Ideen, Wahrnehmungsfilter! Dass wir es überhaupt zu einer einigermaßen sozial funktionierenden Gemeinschaft bringen, und das immer wieder, erstaunt an sich schon und lässt hoffen.

Auf dem Lande ist Nachbarschaftshilfe auch heute noch gang und gebe, zumindest da, wo ich wohne. Zugleich wird aber auch nirgendwo derart begeistert getuschelt und sich das Maul zerrissen über alle, die augenscheinlich nicht "dazupassen"! Wiederum: Es kommt immer auf die Größe des Kreises an, den ein Geist bereit ist, um sich zu ziehen.

LG, eKy
« Letzte Änderung: Februar 01, 2021, 19:01:01 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Die Corona-Nörgelei, ein Denkanstoß
« Antwort #5 am: Februar 01, 2021, 13:54:05 »
ich möchte dir da zustimmen, Erich. Vielen dank und lG von Agneta