Hi Martin!
Kapitalismus ist nur eine oberflächliche Bezeichnung für ein System, das bei weitem nicht alles abdeckt, was eine ganze Kultur ausmacht. Alles zu verdammen, hieße das Kind mit dem Bade auszuschütten. Das taten dereinst die fanatischen Kommunisten in aller Welt, und es forderte abermillionen Tote!
So hat eine rein theoretisch sehr "gute" Idee unsägliche Grausamkeit und Leid verursacht und leistete letztlich nur neuen Diktaturen unter ihrem Deckmäntelchen Vorschub. Andererseits entstand unter dem Druck des "bösen", weil egoistischen Kapitalismus nicht nur Schlechtes, sondern auch viel Gutes.
Das hängt mit der menschlichen Natur zusammen, die nun mal besitzen will, zuweilen egoistisch ist, aber eben auch die Herausforderung braucht, sich zu beweisen, etwas aufzubauen, etwas zu bewegen. Der gleichmachende, konturlos unpersönliche Kommunismus verweigert das dem Menschen - wo niemand etwas besitzt, will sich auch niemand um etwas bemühen, um etwas kümmern.
So kommt der Kapitalismus bei all seinen inhumanen Auswüchsen letztlich der menschlichen Natur eher entgegen das ein verordnetes "Paradies der Werktätigen". Und neben den Makeln entsteht letztlich mehr, das die Menschheit voranbringt, weil Forschergeist und Ideenreichtum sich frei entfalten dürfen. Die Maxime, dass damit "nur" Geld verdient werden soll, greift zu kurz, denn der Mensch ist nicht nur gewinnsüchtig und machtgierig, und viele Kräfte einer Gesellschaft halten die soziopathischen Züge dieses Systems im Zaum.
In Europa funktioniert das derzeit besser als in den USA, die es ja noch nie geschafft haben, ein einheitliches und umfassend funktionierendes Sozialwesen auf die Beine zu stellen, das die Folgen des Kapitalismus zügelt. Leider verstärkt sich zur Zeit der Eindruck, dass Europa unter dem Druck dummer Angst vor Terror, Überfremdung oder staatlichem Kompetenzverlust eher auf die amerikanische Linie einschwenkt, als dass es als Vorbild für Amerika dienen könnte.
Das wiederum begründet sich aus der Geschichte: Die jungen USA waren sehr früh "vereinigt", selbst ein noch so ausgebeuteter Lohnsklave dort käme trotz Terror oder Fremdenhass nie auf die Idee, die USA wieder in Einzelstaaten zu zerlegen! In Europa hingegen misstraut man sich insgeheim bis heute nach Jahrhunderten von Krieg, Vorurteil, Erbfeindschaft, Unterdrückung und Ausbeutung. Wackeln Wohlstand und Sicherheit selbst nur "gefühlt", schwenken die Betonköpfe sofort wieder auf Kleinstaaterei und Abgrenzung um und gewinnen damit die Unsicheren. So scheitert womöglich die große Idee eines vereinten Europas am begrenzten Horizont derer, die auf eine zu lange Tradition der Pflege von Kulturklischees zurückblicken.
Letztlich ist es nie irgendein politisches System, das den Unterschied macht. Es sind die Menschen. "Friede-Freude-Eierkuchen" wird niemals funktionieren. Scheinbar brauchen wir eine chaotische Welt, um uns beweisen und erschaffen zu können. So scheitert irgendwann jede Zivilisation, die in Regularien erstarrt, egal ob mit Wohlstand oder ohne - einfach, weil es wider die menschliche Natur ist, nur eine Ameise zu sein. Selbst jene, die sich freiwillig zu Ameisen machen (Sektenjünger, politisch/religiös Fanatisierte usw...), definieren sich über den Stolz, Teil einer "größeren Sache" sein zu dürfen - die "Idee" ersetzt die individuelle Selbstverwirklichung. Aber dies ist nur eine Projektion.
Ich könnte noch stundenlang weitertippen über die vielen Facetten menschlicher Weltgestaltung, auch jene Seiten, die man so leicht übersieht: Hilfsbereitschaft, Mitleid, Sympathie, Selbstlosigkeit im positiven Sinne! Nicht für irgendeine "Idee" - Kapitalismus, Kommunismus, Christentum, Islam, kulturelle Hybris aller Art - sondern nur um ihrer selbst willen, denn der Mensch ist auch im Guten zu großen Dingen fähig. Schade, dass es oft erst so viel Böses braucht, um es hervorzubringen!
LG, eKy