Autor Thema: In der Schwebe  (Gelesen 1514 mal)

Erich Kykal

In der Schwebe
« am: August 16, 2020, 21:05:38 »
Behüte die schwebenden Dinge
am schweigenden Abgrund der Stunden -
wie Wellen sich weitender Ringe
im Wasser sind rasch sie entschwunden.

Erlernte man alles, was finge
man an, von Erkenntnis zerschunden,
zerschnitten von wissender Klinge,
von tausend Gesetzen gebunden?

Damit dir das Leben gelinge,
hauch zärtlich auf heilende Wunden -
geh tiefer in dich noch und singe
ein Glück dir, ersehnt und gefunden.
« Letzte Änderung: Dezember 31, 2022, 18:05:29 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: In der Schwebe
« Antwort #1 am: August 16, 2020, 23:43:53 »
Sehr schön, lieber Erich, der Gedanke, die Bilder, der Daktylus und die Reim-Einsparung. Freudig gelesen.

Chapeau von gummibaum

Erich Kykal

Re: In der Schwebe
« Antwort #2 am: August 16, 2020, 23:51:21 »
Hi Gum!

Vielen Dank für den gezogenen Hut!  :)

Das Gedicht fragt, ob allzu viel Wissen glücklich macht. Wie wohl kann man sich noch fühlen, ganz ohne Zauber im Leben? Das Glück gelingt oft denen leichter, die einfach leben und nicht alles erforschen und hinterfragen wollen oder zwanghaft müssen.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: In der Schwebe
« Antwort #3 am: August 20, 2020, 17:17:57 »
Hi eKy!

Eine wunderbar dahingleitendes Metrum, das zugleich ein vorzügliches Beispiel dafür ist, dass die Festlegung eines Metrums manchmal durchaus untrivial ist: Wir haben hier durchgängig folgendes Metrum:
 x x́ x x  x́ x x  x́ x 

Ein Daktylus geht so:
 x́ x x

Also könnte man die Verse so auffassen, dass der Daktylus eigentlich erst mit der zweiten Silbe losgeht und vorher eine unbetonte Silbe "außer der Reihe" steht. Dann folgen zwei vollständige Daktylen und dann folgt quasi ein verstümmelter Daktylus, dem die letzte Silbe fehlt (isoliert betrachtet könnte man von einem Trochäus sprechen). Eine unbetonte Silbe "außer der Reihe" nennt man Auftakt, eine "unter den Tisch gefallene" unbetonte Silbe am Schluss nennt man Katalexe. Wir könnten hier also von einem dreihebigen katalektischen Daktylus mit Auftakt sprechen.

Eine ganz andere Deutung ergäbe sich, wenn wir das Metrum als Amphibrachys auffassen. Der geht so:
x x́ x
Dann kommen wir, ohne Auftakt oder Katalexe konstatieren zu müssen, zu einem dreihebigen Amphibrachys.

Im Prinzip wären beiden Deutungen "vertretbar", aber bei der dominierenden Lesart kann man sich z. B. an den Wortfüßen (also dem Hebungsschema einzelner Wörter im Gedicht) orientieren. Gibt es dann viele Wörter in dem Gedicht, die als Amphibrachys gesprochen werden? In Zeile 6 geht es tatsächlich ziemlich amphibrachysch zu: Sowohl Erkenntnis als auch Zerschunden folgen als Wortfuß dem amphibrachyschen Schema, insofern könnte man in dieser Zeile eher von einem dominierenden Amphibrachys sprechen. In den anderen Zeilen dominieren eher daktylische Wortfüße, also tendiere ich auch eher zu einer daktylischen "Deutung" des Metrums, zumal der Amphibrachys im Deutschen nicht wirklich "heimisch" geworden ist. :)

Sehr gern gelesen!

S.

Eleonore

  • Gast
Re: In der Schwebe
« Antwort #4 am: August 20, 2020, 17:37:38 »
Hallo Erich

wenn ich wieder mal zu sehr dem Ratio verhaftet bin,
hole ich mir als Rettung Rilkes Gedicht
"Du musst das Leben nicht verstehen"  (... dann wird es werden wie ein Fest)
hervor.

Dann weicht der Verstand zurück und macht Raum
für das Empfinden.

Die schwebenden Dinge, das nicht Benennbare, das, was diffus und nur am Rande wahrnehmbar ist
trägt mehr "Traum" in sich, mehr Entwicklungspotential,
als das, was ich sicher weiß
und in dieser starren Form als Lehrinhalt weitergeben kann.

Wunderschön verdichtet hast Du das hier.

lG Eleonore

Erich Kykal

Re: In der Schwebe
« Antwort #5 am: August 21, 2020, 00:02:06 »
Hi Suf, Eleonore!

Erst mal vielen Dank für eure Auseinandersetzung mit meinen Zeilen.  :)

Sufnus konzentirert sich ganz auf die Form hier - ich habe beim Schreiben keinen Dunst, was ich da jeweils gewählt habe, ich tue das immer instinktiv, und meistens passt es zum antizipierten Inhalt, keine Ahnung wieso - ein unterbewusstes Gespür dafür?

Eleonore erkennt ganz richtig die besondere Nähe zu Rilke hier (zB auch die Erwähnung von Ringen (S1Z3) weist darauf hin).

Ich schrieb hier sozusagen meine eigene Antithese, bin ich eigentlich doch privat ein sehr logisch deduktiv denkender, kopflastiger Wissensmensch, der streng auf die Kontrolle seiner Emotionen achtet. Meine Gedichte sind da fast mein einziges Ventil und Selbstregulativ.
Allerdings ist mir bewusst, dass wir mehr sind als die Summe unseres Wissens, auch wenn ich das oft ignoriere. Der Wissensmensch in mir ist sicher, dass unterm Strich nichts von uns verbleibt, dass alles Erlernte, Gewordene mit uns erlischt, weil es nur für das Lebendige existent und evident ist - der Gefühlsteil sucht immer noch verzweifelt nach einem "höheren Sinn", nach einer tieferen Bedeutung über den Tod, über die physikalische Welt hinaus.
Bisher allerdings hat der Wissensteil jede diesbezüglich unterbreitete These der Gefühlsabteilung eiskalt widerlegt oder zu einer marginalen Unwahrscheinlichkeit degradiert.
Dennoch schreibt eben ab und zu auch der Gefühlsmensch in mir Gedichte ...  ;)

Hätte ich auf ihn gehört statt auf die "Vernunft", hätte ich ein glücklicheres Leben gahabt? Unbeschwerter, intuitiver, impulsiver, freier? Oder wegen Mangel an Selbstbeherrschung lebenslänglich im Knast? Wer weiß ...

LG, eKy
« Letzte Änderung: August 21, 2020, 00:05:27 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: In der Schwebe
« Antwort #6 am: August 22, 2020, 11:56:16 »
das Glück liegt in einem selbst, es ist der Frieden, die Mitte, die man irgendwann findet. So fasse ich die sch#önen Verse auf und so denke ich auch selbst. Es ist eine amphibrachische Form, wie ein Limerick geschrieben.
LG von Agneta

Erich Kykal

Re: In der Schwebe
« Antwort #7 am: August 22, 2020, 12:18:07 »
Hi Agneta!

Danke für die freundlichen Worte!  :)

Das mit dem Limerick ist mir beim Schreiben auch aufgefallen, das mit dem Amphibrachiosaurus hätt ich nicht gewusst. Ich kenne zwar die Begriffe (Pterodaktylus, Jambusticket usw ...) an sich, habe mir aber nie merken können (oder vielmehr wollen), welcher Name nun genau zu welcher Form gehört. Wozu auch? Ich mach's einfach und scher mich nicht drum, welcher Fachterminus da nun anwendbar wäre.  ;)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

AlteLyrikerin

Re: In der Schwebe
« Antwort #8 am: August 22, 2020, 15:19:19 »
Hallo Erich,
diese Verse haben eine sehr schöne Form. Allein schon das Reimschema ist sehr bewusst gestaltet und stützt für mich in besonderer Weise den Inhalt durch seine Beschränkung. So soll auch das lyrische Du sich beschränken. Nicht alles zu wissen nährt das Leben sondern - trotz aller Verwundungen - im eigenen Kern sich zu verankern ("geh tiefer noch in dich und singe") und von einem möglichen "Glück" zu singen.
Mir fällt auf, dass wir beiden uns da in der Sicht auf das Existentielle gar nicht so sehr unterscheiden. Bei dir bleibt lediglich die Frage offen, woher denn das "Glück" kommen könnte, bzw. wovon es getragen sein könnte und bewahrt. So lese ich jedenfalls Deine Verse, die mir sehr gefallen.
Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

Erich Kykal

Re: In der Schwebe
« Antwort #9 am: August 22, 2020, 21:48:25 »
Hi AL!

Glück ist für mich nichts für sich selbst und aus sich selbst heraus Existentes. Das Glück zu suchen meint für mich ja auch nicht, draussen in der Welt danach zu suchen, sondern in einem selbst. Zu versuchen, die Welt zu beugen, zu zwingen und sich zurechtzubiegen, bis sie etwas spiegelt und verspricht, was man für Glück hält, ist der grundfalsche Weg, denke ich.
Sich selbst so ändern zu können, dass man so weit in die Welt passt, mit ihr harmoniert, dass sich ein Glücksgefühl einstellen kann, das ist die wahre Kunst und Bestimmung unserer Leben. Dazu gehört, geben zu können, ohne etwas bekommen zu wollen, schenken zu können, ohne etwas dafür zu erwarten, verzeihen zu können, ohne im Gegenzug vorauzusetzen, dass einem dafür gleichermaßen verziehen werden müsse.
Selbstlosigkeit ist  - so exakt die deutsche Sprache allgemein sein mag - ein irreführender, missverständlicher Begriff dafür, impliziert er doch, man solle sich selbst aufgeben, wenn man für andere da sein möchte. Weit gefehlt - es macht unser Selbst erst vollständig.

Ich zumindest finde wahres Glück nur in:

1) Schönheit der Natur und dass ich lebe, um sie zu schauen, und 2) Lauterkeit des Herzens derer, die sich meiner Freundschaft und Treue würdig erwiesen, sowie 3) die Freude in in Augen derer, die mich als würdig anerkannten und behielten.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

a.c.larin

Re: In der Schwebe
« Antwort #10 am: September 23, 2020, 20:08:41 »
hallo erich,

unwissentlich schwebend über den schweigenden dingen stelle ist fest:

dieses gedicht ist musik in meinen ohren.
unerkärt und unerklärbar.
und so ist es auch am schönsten.

danke  dafür,
Lg , larin



Erich Kykal

Re: In der Schwebe
« Antwort #11 am: September 23, 2020, 23:11:38 »
Hi larin!

Im Grunde meint der Text: Immer offen zu bleiben, geistig beweglich, ungebunden, unabhängig, innerlich frei und tolerant.

Überzeugte und Fanatiker haben diese Denkungsart verlernt oder verdrängt. In ihrem Universum der Ausschließlichkeit darf es keine Freiheit geben, keine Ungebundenheit, keine Verweigerung der Wahl von "für sie" oder "gegen sie".

Versuch nicht, alles in eiserne Gesetze zu binden - es beschwert dich nur und zieht dich hinab in die Starre eines kalten Seins. Nimm das Universum an, wie es ist, umarme auch das Unperfekte und schaue das Wunder, das auch darin wohnt.


Vielen Dank für deine lieben Zeilen!  :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: Mai 26, 2024, 14:10:29 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

a.c.larin

Re: In der Schwebe
« Antwort #12 am: September 24, 2020, 06:41:05 »
hi erich,
nichts andres hab ich verstanden. du hättest keine erklärung nachschießen müssen.😉

 dieses gedicht ist für mich etwas ganz besonderes, weil noch etwas hinzukommt, das bei anderen deiner gedichte kaum zu finden ist: eine gewisse leichtigkeit dahinter!

es passt also genau zum titel: in der schwebe.
und es macht auch schweben.
vor allem, wenn man den anderen schweben lässt.
ich denke, jeder versteht doch vom anderen nur so viel, wie er kann und will - und von sich selber auch nicht mehr!

so ist das eben mit den (auch zwischen den menschen ) schwebenden dingen:
sie lassen zu können ist das geheimnis manchen glücks!

Lg larin

Erich Kykal

Re: In der Schwebe
« Antwort #13 am: September 24, 2020, 18:48:17 »
Hi larin!

Dann bedank ich mich mal nur und lass das so stehen ...  ;)  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.