Autor Thema: Mosaik  (Gelesen 3266 mal)

Sufnus

Re: Mosaik
« Antwort #15 am: Juni 15, 2020, 12:22:49 »
Hoffentlich kränke ich Dich nicht mit der Anmerkung, dass ich bei "verschlüsselten" Gedichten (so möchte ich diese Kategorie einmal für mich  bezeichnen) immer dankbar bin für Hinweise im Text, die es erleichtern die "Lösung" zu finden. Anders ausgedrückt, ich bin manchmal frustriert, wenn die Lösung sich auch nach längerem Nachdenken nicht finden lässt - jedenfalls nicht von mir. Das ging mir z.B. bei einigen Gedichten von Paul Celan so. Da musste ich richtige Studien betreiben um sie endlich zu verstehen.

Hi Ihr Lieben!

Ich möchte auf die Bemerkung unserer AL zu "verschlüsselter Lyrik" noch gerne etwas Senf beisteuern. :)

Was die "Verständlichkeit" lyrischer Texte angeht, können wir - wenn wir mal grob einteilen - meines Erachtens mindestens fünf Sorten Texte in der Lyrik aussmachen:

1. Die eindeutig verständlichen Texte
2. Die verschlüsselten Texte
3. Die mehrdeutigen Texte
4. Die komplett unverständlichen Texte.
5. Die sprachartistischen Texte

Am einfachsten wird das mit Beispielen. :)

Fast alle Gedichte von eKy gehören zur Kategorie 1. Und das ist kein Zufall, denn eKy ist ein stark "zugewandter" Dichter - er möchte einem Leser etwas mit-teilen (teilen dabei im Wortsinn zu verstehen, etwas mit einander Teilen) und dazu gehört, dass der Leser nicht im Dunkeln tappt, worin die Aussage des Autors besteht ("was möchte der Autor damit sagen", wie es so schön im Deutschunterricht heißt). eKy bemüht sich daher um größtmögliche Eindeutigkeit und Verständlichkeit der Aussage und bemängelt es subjektiv aus seiner persönlichen Poetologie heraus, wenn beim Martin Römer oder (manchmal) bei mir oder (manchmal) bei EV etc., die Aussage nicht so richtig "rüberkommt". Ich lese aus der Anmerkung von AL heraus, dass auch sie zu den "zugewandten" Dichtern gezählt werden darf und sich um größtmögliche Klarheit der Aussage bemüht. :)
Wenn man diese Poetologie einer Epoche zuordnen möchte, dann würde ich sagen, dass die "bürgerliche Dichtung" der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (C. F. Meyer, G. Keller, T. Storm, W. Busch, das meiste von A. Droste-Hülshoff) grob in diese Richtung spielt. Interessanterweise gilt dieser Anspruch nicht in jedem Werk für eKys "lyrischen Goldstandard", nämlich Rilke.

Die Rilkeanische Poesie ist schon häufig in Kategorie 1 beheimatet, aber manchmal bewegt sich auch in Kategorie 2. In Kategorie 2 ist es so, dass etwas anderes dasteht als "der Dichter eigentlich sagen will". Das heißt, die Aussagen des Gedichts ergeben vielleicht einen scheinbaren Sinn (vielleicht wirken sie sogar auch erst mal "sinnlos"), aber der "wahre" Sinn ergibt sich erst bei eingehender Deutungsarbeit. Auch wenn wir so etwas gelegentlich bei Rilke finden, gibt es doch andere Dichter, die hier viel klarere Beispiele für "Verschlüsselung" liefern. Das typische Beispiel wäre wohl Goethe mit seinen unzähligen Gedichten, in denen Blumen vorkommen (Heidenröslein, Gefunden, Veilchen). In den "typischen" Blumengedichten von Goethe steht die Blume in Beziehung mit einem Betrachter oder Akteur und die Interaktion von Blume und dem "Subjekt" des Gedichtes ist erotischer oder sexueller Natur. In den "ganz typischen" Blumengedichten des Geheimrats ist die Blume dabei eine verschlüsseltes weibliches Objekt des männlichen Eros oder Sexus, in einigen Ausnahmen ist das Geschlechterverhältnis auch einmal umgedreht (z. B. beim Veilchen). Wir heutigen Leser sind natürlich einigermaßen eingeübt in diesen Schlüssel und deshalb kommt uns das vielleicht heute nicht mehr so stark "codiert" vor, aber immer noch würden viele heutige Leser das Heidenröslein nicht als eine brutale Vergewaltigungsszene lesen, was andeutet, dass der Schlüssel immer noch teilweise "funktioniert".
AL hat übrigens Celan als Beispiel für "verschlüsselte" Lyrik angeführt und für einige wenige seiner Gedichte stimmt das wohl - am eindeutigsten stimmt es für die Todesfuge. Wer dieses Werk ohne jeden Kontext zum ersten Mal läse, würde "nur Bahnhof" verstehen. Sobald man erfährt, dass es hier um die Shoa geht, lässt sich tatsächlich Bild für Bild decodieren und das Gedicht wird in seinem Mitteilungscharakter eindeutig. Die meisten Gedichte Celans gehören allerdings in die Kategorie 4 (siehe dort)....

Zuvor Kategorie 3: Hier steht etwas, das man auf die eine oder andere Weise verstehen könnte und der Autor gibt uns keinen Hinweis darauf, welche Deutung er präferiert. Bestes Beispiel m. E.: Der Belsatzar von Heinrich Heine. Zunächst drängt sich in dieser Ballade die Deutung auf, dass hier zur Achtung vor der Religion aufgerufen wird: Der frevelnde König, der sich über Gott erhebt, wird bestraft. Aber das ist doch eine seltsame Sache, denn Heinrich Heine ist nicht dafür bekannt, ein Verteidiger der alten Religionen gegen die menschliche Hybris zu sein. Eigentlich kennen wir ihn als republikanischen Aufklärer, der mit Religion nix groß am Hut hat. Was wird da also gespielt? Können wir etwas entschlüsseln und dann ist alles klar? Ich würde sagen: Nein. Es bleibt uneindeutig, keine Interpretation bringt Werk, Autor und Leseerfahrung so recht zur Deckung. Der alte Heine hat uns etwas vorgesetzt, das sich der Eindeutigkeit entzieht und will uns damit offenbar zum Denken provozieren. Viel Glück, dirty Harry!

Kategorie 4 ist nun die für den heutigen Leser meist problematischste: Völlige Unverständlichkeit. Hierzu gehören die meisten Gedichte von Celan. Auch viele (nicht die Mehrheit!) andere moderne Dichter haben hier Beispiele geliefert. Aber auch ältere Zeitgenossen kann man hier aufführen (die Dadaisten zu Beginn des 20 Jahrhunderts oder der großartige Watriquet Brassenel de Couvin aus dem 14. Jh. oder der unerreichte Guillaume IX aus dem 11. Jh. mit seinem obskuren Canso No. IV "Ich werd einen Song über: Hauptnix machen"). Diese Gedichte sind nicht nur unverständlich. Sie bleiben es auch, hier gibt es nichts zu entschlüsseln, es gibt keinen dechiffrierbaren Text, sondern der Dichter mutet uns zu, dass wir uns dem Text nicht mit den Mitteln des Verstandes, sondern den Mitteln des Gefühls, der Intuition nähern. Daher wird auch kein Germanist jemals ein "typisches" Celan-Gedicht "ausdeuten" können. Es bleibt einfach obskur oder "hermetisch" wie man zu solchen Texten sagt.

Kategorie 5 ist m. E. die "typischste" für die Lyrik der Moderne und frühen Postmoderne: Hier wird mit dem sekundären Sprachmaterial, dem Wort, teilweise auch mit dem primären Material, dem Klang, "gespielt", ohne dass es primär um einen Transfer vom Autor auf den Leser ankommt. Das ist der Unterschied zu Kategorie 4, denn bei den "hermetischen" Texten gibt es durchaus eine Art von "Mit-Teilung", nur ist die nicht verstandesmäßer Natur. In Kategorie 5 ist eher der ästhetische Gehalt von Interesse - wenn man so will, sind diese Gedichte abstrakt, ungegenständlich. Demgegenüber sind die Gedichte der Kategorie 4 zwar "gegen-ständlich" aber nicht "ver-ständlich". Der Unterschied zwischen den beiden Kategorien entspricht also etwa dem Unterschied zwischen einem Bild von Dalí (gegenständlich aber unverständlich) und dem Bild "Das Schwarze Quadrat" aus dem Jahr 1915 von Malewitsch (höchste Abstraktionsstufe). Das bedeutet übrigens nicht, dass Gedichte der Kategorie 5 "autistisch" sind und nichts beim Leser bewirken (können), sie sind nur nicht dirigistisch, zielen also nicht auf eine konkrete Endwirkung hin, sondern liefern nur einen primären Reiz, mit dem der Leser dann autonom etwas anfangen kann oder auch nicht. Am Beispiel vom "Schwarzen Quadrat" von Malewitsch: Hier ist der primäre Reiz natürlich die Irritation des "normalen" Kunstbetrachters und diese Irritation ist schon gewollt und einkalkuliert, aber was dann daraus wird, liegt sozusagen nicht mehr in den Händen des Gemäldes. Ein hermetisches Kunstwerk der Kategorie 4 wird demgegenüber viel mehr "Signale" aussenden und auf den Betrachter (oder Leser, wenn wir bei Texten bleiben) einwirken, es dirigiert sozusagen stärker. Ein typisches Beispiel für Kategorie 5 wäre "Fisches Nachtgesang" von Morgenstern oder die Lautgedichte von Hugo Ball oder Kurt Schwitters oder viele (nicht alle!) Beispiele der konkreten Poesie.

Ich würde gerne dafür werben, diese Kategorien nicht als Wertmaßstab zu benutzen. Ein Gedicht der Kategorie 2 ist nicht automatisch "besser" oder "schlechter" als eines der Kategorie 1 usw. Und ich würde dafür werben, die gesamte Bandbreite der Kategorien auszunutzen: das Feld ist so weit, warum sollen wir uns beschränken? :)

LG!

S.


« Letzte Änderung: Juni 15, 2020, 12:25:14 von Sufnus »

AlteLyrikerin

Re: Mosaik
« Antwort #16 am: Juni 15, 2020, 12:32:46 »
Ja, lieber Sufnus,
warum sollten wir uns beschränken, und es geht selbstverständlich nicht darum irgendeine der von Dir so schön prägnant beschriebenen lyrischen Gedichtformen abzuwerten oder auszugrenzen. Aber manche Gedichte können uns schon frustriert zurück lassen. Ich tröste mich dann, dass die einfach nicht für mich gemacht sind, aber jemand anderen können sie sehr stark ansprechen.
Danke für die Erläuterung bzw. Übersicht der verschiedenen Kategorien.
Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

Ylva

Re: Mosaik
« Antwort #17 am: Juni 15, 2020, 18:06:26 »
Hi Sufnus,

auch ich fand deine Erläuterungen sehr spannend...vielen Dank dafür!!!
Und auch ich denke, dass wir den Texten, die für uns kompliziert und unverständlich erscheinen,
auf jeden Fall eine Chance geben sollten. Und in einem Forum hat man ja auch die Möglichkeit
zufragen, wenn man etwas mal nicht verstanden hat.. :)


LG
Ylva

Erich Kykal

Re: Mosaik
« Antwort #18 am: Juni 15, 2020, 19:49:20 »
Hi!

Zu den Kategorien der Lyrik:

Erstmal Dank an Sufnus, dass er mich als Beispiel zur Erklärung seiner Kategorien anführt, sehr schmeichelhaft. Er hat recht, wiewohl ich zuweilen auch Gedichte der Kategorien 2 und 3 verfasst habe. Manches in meinem Werk ist durchaus mehrdeutig oder verklausuliert, aber es ist meist zum Draufkommen. Obwohl: manche meiner Werke bekamen nie ein Echo in einer von mir in den Text hineingeheimnissten Richtung. Entweder man kam nie drauf, oder man wollte es nicht erwähnen ...

Aber letztenendes schreibe ich meist unter Kategorie eins, weil mir das so am besten gefällt. Ich käme nie auf die Idee, nur deshalb Kategorien zu bedienen, die außerhalb meiner Komportzone liegen, um ein Statement als Allrounder zu setzen. Wenn mir eine bestimmte Frisur nicht gefällt, gehe ich ja auch nicht zum Friseur und lass mir genau diese schneiden, bloß um sagen zu können, dass ich in allem offen und tolerant bin und alles mal ausprobiert haben möchte, auch wenn ich es nicht ausstehen kann!  ;D ::)

Gewisse Spielarten der Lyrik gefallen mir ganz einfach nicht, warum also sollte ich mich bemühen, dennoch so zu schreiben? Klingt nach Masochismus für mich ...

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Zum Gedicht:

Grau in Grau gelegt,
dazwischen etwas Rot.
Und Splitter eingefegt
in viel zu große Fugen.

Ton in Ton gegossen,
dazwischen etwas Blau.
Gesprungen und verschossen
im zähen Alltagstrott.

Die Nuancen unbestimmt,
verlorn und ohne Glanz.
Vernarbt und ungeschminkt,
nur eine unter vielen.

XxXxX
xXxXxX
xXxXxX
xXxXxXx

XxXxXx
xXxXxX
xXxXxXx
xXxXxX

XxXxXxX
xXxXxX
xXxXxX
xXxXxXx

Aufffallend, dass jede erste Zeile jeder Str. betonten Auftakt hat, die anderen drei dagegen unbetonten. Da dies einer klaren Abfolge folgt, kann es nicht als Fehler bewertet werden. Der einzige richtige Fehler findet sich in S3Z1, wo sich vier Heber finden anstatt der sonstigen drei. Ein weiterer guter Grund, diese Zeile umzuschreiben, findet sich in der Unsauberkeit des Reims "unbestimmt/ungeschminkt".

Unangenehm für das musische Gemüt ist zweierlei: Dass immer 2 Zeilen in jedem Quartett ungereimt bleiben, und dass es ausgerechnet die Zeilen 2 und 4 sind, was das Fehlen des Reims auffälliger macht, als wenn es bei den Zeilen 1 und 3 aufgetreten wäre, da immer die Schlusszeile/ das Schlusswort jeder Strophe gleichklangtechnisch besondere Aufmerksamkeit erhält.

Stilistisch: In S3Z2 hätte ich statt der ungünstig klingenden einsamen Verkürkung "verlorn" eher das "und" gekippt und durch ein Komma ersetzt: "Verloren, ohne Glanz." Das wäre sprachlich gediegener und klänge zudem besser, sauberer formuliert.

Am besten gefallen mir die beiden letzten Zeilen von Str.1: Wirklich ein schönes Bild!

Inhalt:

Ich sehe ein gealtertes Bodenmosaik, vielleicht das Bild eines schönen Mädchens. Es altert, verschleift sich weiter mit jedem, der darübergeht, verblasst mit den Dekaden, der Boden wird rissig, Teile gehen verloren, es verschmutzt - ein Gleichnis auf den menschlichen Alterungsprozess, ja auf das ganze Menschenleben an sich. Auch über uns gehen viele Menschen hinweg, streifen sich an uns die Schuhe ab, nutzen, benutzen uns gleichgültig, ohne tiefere Regung, und das hinterlässt immer Spuren. Das leben "verschmutzt" uns auch, kein Gewissen bleibt ewig rein und unschuldig.

Schön gedichtet! :)



LG, eKy
« Letzte Änderung: Juni 15, 2020, 20:09:03 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Ylva

Re: Mosaik
« Antwort #19 am: Juni 19, 2020, 15:23:10 »
Vielen Dank, Erich.
Ich freue mich über Deine Meinung und Analyse meiner Zeilen.
Ich probiere gerne aus und spiele mit den verschiedensten Textformen (wie man hier sieht).
Ob ich dann weiter in diesem Stil schreibe, weiß ich nie so genau. Es kommt wie es kommt und so schreibe ich auch. Dazu gehören dann auch Zeilen, die einfach mal ungereimt  bleiben (oder "unsauber" gereimt wurden).  Auch wenn sich bei manchem musischem Gemüt die Nackenhaare beim Lesen aufstellen.... ;D ;D
Vielleicht werde ich diese Zeilen mal umschreiben...aber ich denke sie werden so bleiben wie sie sind. Mal sehen.

LG
Ylva