Autor Thema: Wolken pflücken  (Gelesen 1220 mal)

AlteLyrikerin

Wolken pflücken
« am: Juni 15, 2020, 11:57:18 »
Wer wird in Zukunft Wolken pflücken,
wer sich zur Erde nieder bücken
für ein zartblau besterntes Kraut?

Wer wird noch Sternenlieder singen,
wer sich dem Mond für nichts verdingen,
als dass er steten Wandel schaut?

Wer wird im Brot noch Segen schmecken,
im Glas das Abendrot entdecken,
das sich in Wein gewandelt hat?

Wer wird zur Nacht des Leids gedenken,
das wir einander schamlos schenken,
als ob das Recht gehandelt hat?
« Letzte Änderung: Juni 17, 2020, 17:11:38 von AlteLyrikerin »

Sufnus

Re: Wolken pflücken
« Antwort #1 am: Juni 15, 2020, 12:40:36 »
Ganz wunderbare Zeilen, liebe AL und eine prompte Widerlegung meiner (über)mutigen ;) These in Ylvas Mosaik-Thread, Du seiest ein grundsätzlicher Verfechter klarer Verständlichkeit. Dieses Gedicht ist zumindest verschlüsselt... in Teilen womöglich sogar mehrdeutig... und ich mag es sehr!!!
Mein persönlicher Zugang zu diesen Zeilen von Dir würde über die Hintergrundsfolie von Jean Arps Gedicht "Kaspar ist tot" erfolgen. Es ist ein Abschiedsgesang, womöglich gar eine Totenklage, wahrscheinlich aber eher ein "diesseitiges Adieu". Und die verspielte Koboldhaftigkeit des Kaspars schimmert auch durch AL's Zeilen. Daneben haben wir im zweiten Teil eine interessante inverse Konsekration: Nicht der Wein wird zum Blut Christi sondern das Blut des vergehenden Tages wird zum Wein. Ich gehe mal davon aus, liebe AL, dass Dein christlicher Glaube eher auf einer evangelischen als einer katholischen Theologie fußt, oder (wenn Dir die Frage nicht zu persönlich ist)? :)
Sehr gerne gelesen!
S.

AlteLyrikerin

Re: Wolken pflücken
« Antwort #2 am: Juni 15, 2020, 13:06:00 »
Lieber Sufnus,

herzlichen Dank für Deinen Kommentar. Nun, Deine zweite Vermutung muss ich auch in die Ablage für Irrtümer legen. Meine Konfession, zu der ich mich gerne bekenne, ist römisch-katholisch. :D

Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

Sufnus

Re: Wolken pflücken
« Antwort #3 am: Juni 15, 2020, 16:05:17 »
Die Geschichte meiner Beiträge soll einstens einmal als Geschichte meiner Irrtümer geschrieben werden... aber deine umgedrehte Wandlung ist theologisch schon ein kühner Vorgang... und komm mir nicht mit Kana(a)... da war das Ausgangsmaterial schnöder Gänsewein... ;)

Eleonore

  • Gast
Re: Wolken pflücken
« Antwort #4 am: Juni 15, 2020, 16:44:44 »
Liebe Alte Lyrikerin

ich schließe mich dem Sufnus an.
Das ist wundervolle gedichtet.

Die Frage, ob es weiterhin "beseeltes" Leben geben wird -
das resümiere ich für mich daraus.

Die dritte Strophe lese ich ein wenig anders:
Der Tag gekeltert hat sich in Wein verwandelt.

Mit der zweiten Strophe stimmt für mein Sprachempfinden etwas nicht -
nämlich:

Ich verdinge mich als Steinmetz bei der Domhütte bspw. . Dies für geringen Lohn.
In Deinem Gedicht für nichts .
Soweit folge ich noch.
Sich dem Mond verdingen .... - heißt das dann quasi beim Mond beschäftigt sein?
Demnach hieße es ja auch ...ich verdinge mich dem Bauern.
Das hakt - ich kann es nicht begründen

Damit die dritte Zeile in dieser Strophe stimmig ist,
müsste in der zweiten Zeile ein "eher dem Mond ".... usw. stehen.

Damit das Gedicht rund ist,
müsste das für mich klarer werden -
vllt. täusche ich mich auch und kriegs bloß in meinem Kopf nicht zusammen.

liebe Grüße

Eleonore

Seeräuber-Jenny

Re: Wolken pflücken
« Antwort #5 am: Juni 15, 2020, 17:01:01 »
Hallo AlteLyrikerin,

sehr schöne, romantische Zeilen, die erahnen lassen, welchen Verlust die neue Zeit mit sich bringt.

Statt „Abendrot“ hätte ich wohl „Sonnenschein“ genommen, weil die Trauben in der Sonne reiften. Aber du dachtest bestimmt an das Weinglas, in dem sich das Abendrot spiegelt.

Nicht ganz glücklich bin ich mit der letzten Strophe bzw. der letzten Zeile. Besser fände ich

Wer wird bei Nacht des Leids gedenken,
das wir einander achtlos schenken,
weil sich das Herz verschlossen hat.

oder so ähnlich.

Gern gelesen.

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny
« Letzte Änderung: Juni 15, 2020, 17:06:36 von Seeräuber-Jenny »
Ideale sind wie Sterne. Wir erreichen sie niemals, aber wie die
Seefahrer auf dem Meer richten wir unseren Kurs nach ihnen.
Carl Schurz

AlteLyrikerin

Re: Wolken pflücken
« Antwort #6 am: Juni 15, 2020, 17:29:53 »
Vielen, lieben Dank für Eure freundlichen Kommentare.

@Sufnus: Du findest die "umgekehrte Wandlung" eine "theologische Kühnheit". Das sollte sie sein. :D Zwar wollte ich die Verse nicht auf diesen Aspekt festlegen, sie sollten mehrdeutig lesbar bleiben. Aber gemeint ist das schon auch. Denn zentral ist mir der Gedanke, das ein auf Erfolg, Zweck, Nutzen festgelegtes Leben eine ungeheure Verarmung und Entfremdung darstellt.

@Eleonore: Verdingen ist ein sehr altes Wort, es stammt aus dem Mittelhochdeutschen und bedeutet, wie Du richtig angegeben hast, sich gegen Bezahlung in einen Dienst begeben. Verdingen ist hier auch nicht wortwörtlich sondern metaphorisch gemeint (und freilich auch dem Reim geschuldet). Während die ökonomische Lebensweise von Tauschäquivalenten bestimmt ist (zwar kein Naturaltausch mehr) erhält der Mondbetrachter scheinbar nichts. Den "Wandel" schauen (die Bedeutung von Wandlungen wahrnehmen zu können) ist der eigentliche "Mehrwert", den ein ökonomischer Blick ins Sein nicht kennt. Hier geht es mir auch ums Spielen und Verschieben von Bedeutungsebenen (Anwendung ökonomischer Begriffe auf Natur bzw. Transzendentes und umgekehrt.)

@Seeräuber-Jenny: Die dritte Strophe soll hier bewusst als harter Kontrapunkt zu den vorausgehenden stehen. Das "Leid", das wir uns "schamlos" (also ohne uns dafür zu schämen) schenken, ist das Leid, das durch eine entartete Ökonomie in die Welt und unter die Menschen kommt. Wir machen Schnäppchen (z.B. bei billigem Kaffee und Schokolade), während die Kaffeepflücker im Elend leben, und das nehmen wir einfach so an als stünde es uns zu (wir handeln also recht bzw. nach unserem europäischen Recht völlig korrekt). Es geht also nicht nur um den Verlust von Romantik.

Das ist meine Intention hinter den Versen. Aber, wie wir schon oft erfahren haben, schafft der Leser die Verse neu indem er sie in seine Erfahrungswelt hinein nimmt.

Herzliche Grüße und nochmals Danke für Eure Rückmeldungen, AlteLyrikerin.

Erich Kykal

Re: Wolken pflücken
« Antwort #7 am: Juni 15, 2020, 20:44:46 »
Hi AL!

Gefällt mir sehr gut, bloß das etwas unglücklich betonte "zukünftig" in S1Z1 würde ich durch "in Zukunft" ersetzen, was betonungstechnisch gut hinpasst.

Auch das "zartblau" (das ja auf Silbe 1 betont sein möchte) in S1Z3 verführt dazu, die Zeile mit betontem Auftakt lesen zu wollen, da solltest du vielleicht auch einen passenderen Ausdruck präferieren.

Die Sprachbilder sind sehr stark und sehr lyrisch - wunderbare Sprachhabung! Die hinteren drei Str. gefallen mir am besten. S1 hängt für mich inhaltlich ein wenig in der Luft, weil es mir schwerfällt, darin ein Setup oder eine eindeutige Botschaft zu entdecken, denn was soll dieses blau besternte Kraut sein? Ich habe keinen Dunst.

Die anderen Str. hingegen geben klare Hinweise, die man gleich einordnen kann. Die rhetorischen Fragen behandeln den Glauben an Wunder, Romantik und das Gute im Menschen, kurz, das Positive, das uns einander ertragen, ja lieben lässt, das unseren Existenzen Basís, Inhalt und Bedeutung verleiht.

Sehr gern gelesen!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

AlteLyrikerin

Re: Wolken pflücken
« Antwort #8 am: Juni 17, 2020, 17:18:33 »
Liber Erich,

verzeih die späte Antwort; ich war sehr beschäftigt. Über Deinen Kommentar habe ich mich sehr gefreut. Den Vorschlag "in Zukunft" habe ich schob übernommen. "zartblau" da such ich noch. Sollte ich nichts finden, ist mir das Bild wichtiger als das Metrum. :D

Was die erste Strophe angeht: Sie leitet in die gesamte Thematik ein. der Mensch muss sich nach oben ausstrecken, sich selbst überschreiten, das kann u.a. meinen, er solle seine Visionen leben und nicht nur seine Zwecke. Wenn er sich nicht niederbückt, wird er so eine kleine blaue Blüte, wie z.B. Vergissmeinicht, gar nicht sehen können. Hinter diesem Bild steckt das sich klein machen, nicht so wichtig nehmen bis hin zur Demut, ohne die vieles nicht wahrgenommen und gelebt werden kann.

Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.