Autor Thema: Tagwerk  (Gelesen 1386 mal)

Eleonore

  • Gast
Tagwerk
« am: Juni 10, 2020, 14:19:02 »
Tagwerk

Da fahren sie ihre Tage heim -
Einheimische, Pendler - jahraus und jahrein.
Müdigkeit ist mit im Gepäck;
bei and'ren alteingesessener Schreck.

Kaputte Augen, für die Kinder die Schuh,
fröhliche Bücher von Haifisch und Kuh.
Manch Einer hat zwei Liter Schnaps dabei.
Andre Zitronenschale, Mehl, Milch und Ei.

Da fahren wir uns're Tage nach Haus -
vor der Glotze löschen wir gänzlich aus
mit Bier und mit seichtem Comedydreck.
Chips gibt es dazu oder Eier mit Speck.

Wo ist der Glanz, wo das Licht in der Welt,
wenn draussen das große Dunkel fällt?
Wo ist das Herz, das singt in der Nacht ?
Wer hat den Funken mit heim gebracht ?

Martin Römer

  • Gast
Re: Tagwerk
« Antwort #1 am: Juni 10, 2020, 15:15:10 »
Werte Eleonore,

Wo ist das Herz, das singt in der Nacht ?

Bei mir ist es bspw.  :)
So muss ich das mit Härte sagen, wenn mich eine solche Frage anlächelt
und wo Gefahrenlage und Seligkeitsbedürfnis prächtiglich aufeinanderstoßen.
Wer für welche Gesellschaft singt - ergibt sich von allein.

Was du beschreibst, ist eine altbekannte Sache, die jetzt meines Erachtens etwas verdrängt worden ist von allerlei gröberem Spuk.
Oder deutlicher gesprochen: wenn es nur Bier und Chips wäre.....
Aber nähmen wir nur mal dieses Szenario, für mich wäre das eine Fürchternis, ich kann nicht "herumlungern".

Ich fühle mich ein wenig an die Nachtfahrt erinnert zurück von Ilka-Maria.
Ich denk mir wenig dabei, wenn Speis und Trank ausgebreitet werden - kommt sicher auf der ganzen Erde vor.  ;)
Ich denk mir nur bei bösartigen Ausflüssen etwas.

Dieser Drang nach einer Hoffnung ist nur zu natürlich, aber gewisserweise auch trügerisch.
Man mache etwas mit Hingabe oder man gebe sich ganz der Geschehnis hin -
so einem Dahinwallen mit Kompromissen bin ich abgeneigt.

In dein kleines trauriges Lied lässt sich manches gedanklich hineinstopfen.
Wer steht rüstig und macht zwecklose Dinge im Schatten? "Künste" als Schlagwort bspw.?
Nein, ich sehe bei meinen Schicksalseskapaden nichts Lächerliches, hin und wieder mit Andacht von mir selbst zu denken.
Einstens sprach man von einem Licht der Vernunft.... jetzt wird von einem Licht überhaupt geschrieben.....

In meiner Generation habe ich ein moralisches Gefüge im Grunde nicht kennen gelernt,
im Rückblick haben sich die kalten Dinge des Verstandes und die Spielgenüßlichkeit in guter Schärfe weiterentwickelt,
sodass man von kultivierter Kindlichkeit mit unguten Tendenzen sprechen kann.
Ja, jetzt, wo du dergleichen sagst.....
Manche Nächte lag ich wach mit der Frage, ob wohl noch ein Gesicht aus dieser öden Ekstase herausragt.
Aber ich hab ja genügend andern Kummer, mit Verlaub.


Wie dem Ganzen jetzt auch sei:
es ist immer hübsch, etwas "Klares" zu lesen, es müssen in der Poesie nicht immer die mystischen Wälder sein.


Viele Grüße
M.

Eleonore

  • Gast
Re: Tagwerk
« Antwort #2 am: Juni 11, 2020, 20:38:50 »
Hallo Martin Römer,

wenn die Tage wieder kürzer werden und die triste Zeit des Novembers beginnt,
dann steigt Melancholie leichter auf als sonst.
Zu dieser Zeit vor etlichen Jahren war es,
als ich - inspiriert von den Menschen, die nach der Arbeit heimfuhren
und müde und kaputt in den Sitzen der Busse sackten,
dieses Gedicht fand.
Nachdem etliche dieser Busse durch die Nacht an mir vorüber gefahren waren
sprang mich einfach die  - vermeintliche - Traurigkeit derer an,
die tagtäglich aus den Büros, Kaufhäusern, Werkhallen nach Hause strömen .... in steter Regelmässigkeit ... in die dunkle Nacht fahren.
Und eben da dann die Frage, wer noch einen Funken mit nach Hause gebracht hat.... - wie man überhaupt einen Funken mit nach Hause retten kann.....

Arbeit ist einfach etwas, das auszehrt - und ich habe vermutlich noch relativ viel Glück. Als die Sachbearbeiterin in der Arbeitsagentur vor 13, 14 Jahren mal meinte, mein Zug beruflich wäre nach 8 Jahren Familienzeit abgefahren und ich müsse jetzt Verkäuferin werden, da staunte ich Bauklötze, was in dieser Berufssparte an Demütigungen und Fremdbestimmtheit abgeht. Fünf Tage REWE .... und später noch mehrere Wochen Schlecker, bis ich ihnen den Dreck hinschmiß ... das war ein Guckfenster in eine scheußliche Welt.

Das Gedicht ist klar und einfach, genau.

Nein, ich sehe bei meinen Schicksalseskapaden nichts Lächerliches, hin und wieder mit Andacht von mir selbst zu denken. Sich selber zu würdigen ist etwas ,was man_frau nicht oft genug tun kann. Ich stimme Dir da sehr zu.

Nicht herumlungern zu können, wie Du schreibst, ist eine große Stärke. Seine Kapazitäten und Kräfte zusammenzuhalten. Wenn es allerdings in eine strikte Disziplin ausufert, aus der kein Weg hinausführt, dann find ich es bedenklich.

Danke jedenfalls für Dein Lob  zu meinem Tagwerk, das freut mich.

Zu Ilka-Maria, auf die ja an mehreren Orten hier Bezug genommen wird - ist die neue Poetry-Chefin damit gemeint??

Viele Grüße

Eleonore
« Letzte Änderung: Juni 11, 2020, 20:58:00 von Eleonore »

stephanus mall

Re: Tagwerk
« Antwort #3 am: Juni 11, 2020, 23:00:10 »
Liebe Eleonore,
hast Du gut eingefangen, die Stimmung und das was sich da alles herumrankt.
Ja, die Tristesse des Lebens vor der man sich hüten muss um ihr nicht zu verfallen.
Die zweite S gefällt mir nicht ganz so, da wäre vielleicht noch mehr drin gewesen,
schmälert aber die Gesamtaussage nicht unbedingt.
Ich habe mich mit dem Thema dieses erniedrigenden Gleichmaßes der Tage auch mal
befasst und da versucht etwas rüber zu bringen. Man kann diese Stimmung aber glaube
ich nur einfangen wenn man nicht unmittelbar und permanent davon betroffen ist.
Ansonsten empfindet man da anders und ist wohl eher geneigt sich diesem Schicksal
zu ergeben.
Ich werde die beiden Sachen die dazu ein wenig passen mal einstellen.
Beste Grüße
stm

Martin Römer

  • Gast
Re: Tagwerk
« Antwort #4 am: Juni 12, 2020, 11:50:32 »
Ja, der ganze Urwald von Niedriglohnsektor bis Managerposten bietet auch für Außenstehende nur ein bekümmerliches Bild.
Corona hat zumindest in Ansätzen gezeigt, dass einiges auch stille stehen könnte.

Ilka-Maria ist in ihrer nonchalanten Wesensart ein mächtiger Felsen im Meer,
da brechen sich gerne die Wellen.

Seeräuber-Jenny

Re: Tagwerk
« Antwort #5 am: Juni 14, 2020, 01:32:18 »
Liebe Eleonore,

„Glück auf“ kann man sich als Pendler leider nicht wünschen, als Saisonarbeiter aus Ost-Europa schon gar nicht. Der lange Weg zur Arbeit, Schuften für ein paar Kröten, die gerade so für den schnellen Einkauf reichen. Ein einfaches Abendessen, und dann sinkt man todmüde in den Fernsehsessel. Was für ein freudloses Dasein. Von wegen Herzlichkeit und Singen.

Traurige Zeilen.

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny
Ideale sind wie Sterne. Wir erreichen sie niemals, aber wie die
Seefahrer auf dem Meer richten wir unseren Kurs nach ihnen.
Carl Schurz

Eleonore

  • Gast
Re: Tagwerk
« Antwort #6 am: Juni 14, 2020, 09:02:30 »
Lieber Stephanus mall, lieber Martin, liebe Seeräuber-Jenny

Danke für Euer Mitschwingen id Tristesse der Zumutungen.

Stephanus, ja - mensch kann über sowas nur schreiben,
mit genügend Abstand. Supervision kann ja auch nur eineR geben, der nicht ins Geschehen verwickelt ist.

Dein Gedicht zum ähnlichen Thema fand ich und werde noch etwas dazu schreiben.

Welche Ideen hast Du zu Strophe zwei ? Bzw. was gefällt Dir nicht ganz so gut?

"erniedrigendes Gleichmaß der Tage" - ist ein sehr treffender Ausdruck. Wobei ich dieses auch empfunden habe, als ich in - zumindest äußerlich - höherer Position tätig und doch recht selbstbestimmt war. Andererseits muss eine sich fragen, wie selbstbestimmt man arbeiten kann, wenn man bei einem Bildungsträger tätig ist, der direkt der Bundesagentur für Arbeit unterstellt ist .... .
Ich bin ja aktuell und Corona-Dank seit drei Monaten daheim und das ist ein unglaubliches Geschenk.

Martin, ich fand Corona und die Stille die es in vielerlei Hinsicht mitbrachte wundervoll. Jetzt ist die ganze Stadt wieder erfüllt vom großen Autodiktat und eine muss als Fußgängerin, selbst wenn sie noch rüstig beinander ist, schauen, über die Ampel zu kommen bei Grün. Sogar mit dem Fahrrad ist es manchmal Glückssache ... Was für eine Politik ..... *ächz*

Jenny Seeräuber , Pendler, Saisonarbeiter usw. haben sicherlich die größte A.karte im beruflichen Sektor gezogen. Jedoch auch einfache ArbeiterInnen - zB. in einer Wäscherei oder bei BMW sind "Humankapital" - ein Wort, das tatsächlich so existiert.... .  . Ich habe mal als Studentin in einer Wäscherei gejobbt .... nach zwei Wochen bekam ich hysterische Anfälle durch die von den Maschinen getaktete Arbeit .... mein Nervensystem hielt das nicht aus. Die Wäscherinnen, die dort seit Jahrzehnten arbeiteten waren vergrätzte und boshafte Frauen.

Einen schönen klingenden Sonntag

Eleonore
« Letzte Änderung: Juni 14, 2020, 09:04:14 von Eleonore »

AlteLyrikerin

Re: Tagwerk
« Antwort #7 am: Juni 14, 2020, 11:50:42 »
Liebe Eleonore,

beruflich bin ich mehr als vierzig Jahre mit der Eisenbahn gependelt, denn mein Schreibtisch stand immer beim Kunden. Die Pendlersituation hast Du sehr anschaulich beschrieben. Deine Verse gefallen mir.
Ich erinnere mich an eine Zugfahrt am Morgen gegen 6 Uhr, ein unerhört schöner Sonnenaufgang war durch die Zugfenster zu sehen, aber kaum jemand hat ihn wahrgenommen. Der Großraumwagen war gefüllt mit Zeitungslesern, Schlafenden, solchen, die am Laptop ihre Arbeit vorbereiteten und mit Managern, die besprachen, wie man die Konkurrenz übertrumpfen können. Da habe ich spontan die folgenden zwei Vierzeiler in mein Tagebuch geschrieben:

Pendler

Wenn der Himmel sanft errötend
gegen dunkle Schatten ficht,
wird sein zartes Werben nichtig
vor dem harten Lampenlicht.

Reisen Menschen, Träume tötend,
auf dem Stahlband dicht an dicht.
Ihre Ziele sind sehr wichtig,
ihre Träume sind es nicht.

Daran hat mich Dein Gedicht erinnert. Liebe Grüße, AlteLyrikerin.

Eleonore

  • Gast
Re: Tagwerk
« Antwort #8 am: Juni 15, 2020, 09:45:51 »
Liebe Alte Lyrikerin

Danke für Deine Zeilen.

Dein Gedicht ist sehr betroffen machend
und ich finde, es könnte eigenständig besprochen werden,
da es "stark" ist.

In kurzer Zeit muss ich mich auch wieder dem Arbeitsjoch beugen,
nach drei Monaten Auszeit.
Ich konnte ein wenig an meinen Träumen schnitzen -
und vllt. können sie stark genug sein,
um eine neue Spur zu legen.

Der Wahnsinn ist ... dass ich mein Leben lang in dieser Arbeiten-für-die-Rente-Spur
drinnen war - wie vermutlich die meisten Menschen.
Mir treibt es die Tränen in die Augen,
wenn ich mir zu Bewusstsein kommen lasse, was das für ein Verrat gewesen ist.

Aber, wir sind ja hier,
um Gedichte zu besprechen und womöglich zu optimieren.
Vllt. organisiere ich doch die Gedichtelesung hier in meiner Stadt,
die ich vor zwei Jahren zurückgezogen habe mangels Kraft.

Denn, woher soll denn sonst der Funkenflug stammen,
wenn nicht von den KünstlerInnen und den PoetInnen?

ps: Du wohnst nur ca. 30 Kilometer von mir entfernt - bin aus Regensburg

liebe Grüße

Eleonore


AlteLyrikerin

Re: Tagwerk
« Antwort #9 am: Juni 15, 2020, 11:40:34 »
Liebe Eleonore,

ich freue mich für Dich über die Auszeit, die Du genießen durftest. Arbeit ist immer dann schwer zu ertragen, wenn ihre Rahmenbedingungen nicht fair oder ihre gesamte Struktur eher entfremdend ist. An etwas Sinnvollem arbeiten zu dürfen, kann durchaus Freude machen (nicht nur wegen der Rente).
In Regensburg habe ich mehr als vierzig Jahre gelebt, eine faszinierende Stadt. Deine Lesung solltest Du unbedingt machen. Gedichte wollen in die Welt, und Dichter brauchen die Rückmeldungen eines Leser- bzw. Hörerkreises. Ich selbst habe im Laufe der Jahre drei kleinere Lesungen gehalten (von 8 bis mehr als 20 Personen besucht). In der Vorbereitungsphase hatte ich immer jede Menge Angst und war jedes Mal von der freundlichen Reaktion der Menschen überrascht und überwältigt. Sobald Corona das wieder zulässt, sind zwei weitere Lesungen geplant, über die ich mich schon jetzt freue.
Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.