Hey EV!!!

Ich bin platt & begeistert! Das sind ganz ungewohnte Töne von Dir - viel stärker am Alltagsreden orientiert als Dein typischer "rilkeanischer" Sound. Letzterer folgt natürlich nicht exakt der Poetik von Rilke - es ließen sich hier viele Unterschiede bestimmen, auf die Du teilweise selbst schon hingewiesen hast; "rilkeanisch" ist also eher ein Arbeitstitel.
Ich will dabei jetzt gar nicht den hier angeschlagen Ton gegen Deinen stärker "pontifikalen" Gestus (was ich ungenau mit rilkeanisch bezeichnet habe) ausspielen, ich finde es einfach nur schön, wenn man nicht auf eine Art des Schreibens festgelegt ist.

Aus diesem Grund genieße ich diese Deine Zeilen sehr!

Wenn ich trotzdem noch eine Anmerkung machen darf, die vielleicht Möglichkeiten zur weiteren Perfektionierung der Verse schafft: Mir fällt auf, dass in jeder Strophe des Gedichts durch die jeweils letzte Zeile der poetische Gehalt ein ganz kleines bisschen geschmälert wird, wobei es schwer zu erklären ist, wie das genau passiert. Ich versuchs trotzdem... lies mal das Gedicht am Stück, aber immer unter Auslassung der letzten Zeile jeder Strophe (und blende dabei den dann jeweils fehlenden Reim mal aus).
Immer wenn ich Dir begegne
weißt du nicht, dass es mich gibt:
Nur ein Blick, den ich entgegne.
Wenn ich aus dem Fenster blicke,
keine Kilometer weit,
wohnst du, schönst die Augenblicke.
Doch ich weiß kein Wort, ich wage
nicht, dich im Vorübergehen
anzusprechen. Und ich klage.
Ach, ich such den Mut auf Erden,
mutig wie kein andrer Mann:
Älter will ich mit dir werden...
Was (zumindest ist das mein Eindruck) dabei passiert ist, dass sich das Gedicht plötzlich öffnet und den Leser dazu einlädt, die Geschichte weiter zu schreiben. In der vollständigen Version mit Quartetten wirkt die jeweils vierte Zeile der Strophe quasi wie eine Art Deckel, der die Handlung immer wieder abschließt und damit dem Gedicht etwas die Beweglichkeit raubt.
Ich würde jetzt aber natürlich nicht dazu auffordern wollen, Dein wunderschönes Gedicht zu verstümmeln, in dem Du die Zeilen 4, 8, 12 und 16 einfach streichst. Aber vielleicht könnte die eine oder andere dieser Zeilen noch etwas schwebender und offener gestaltet werden? Nur so ein Gedanke...
Unabhängig davon, sehr gerne gelesen!

Ganz besonders schön finde ich übrigens die zweite Strophe, in welcher der Einschub "keine Kilometer weit" nicht ganz genau im Syntaxgefüge aufgehängt ist (das wäre er, wenn das Komma hinter "weit" wegfiele und die Parenthese zu einem festgefügten Satz würde: "Keine Kilometer weit wohnst Du").
Durch das Komma lässt sich "keine Kilometer weit" sowohl auf "Wenn ich aus dem Fenster blicke" als auch auf "wohnst Du" beziehen, was diese Strophe federleicht macht! Große Freude beim Lesen!
VG!
S.