Autor Thema: Schüchternheit  (Gelesen 1277 mal)

Erich Kykal

Schüchternheit
« am: August 26, 2019, 14:34:55 »
Ich sehe dich und stehe vor der Frage:
Versuche ich es oder wieder nicht?
Und wenn ich mich erraffe, ach, was sage
ich nur zu dir, das mir aus Tiefstem spricht?

Ich schaue in dein göttliches Gesicht,
und wie zuvor schon jedes Mal versage
ich kläglich wie ein ungelenker Wicht,
und traurig aussichtslos ist meine Lage!

Was ist es bloß, dass ich partout nicht wage,
dich anzusprechen, Herrliche im Licht!?
Ich bleibe dort, wo ich ins Leere rage,
bis irgendetwas tief in mir zerbricht,

verberge mich in Täglichem und Pflicht,
verdränge alles, was ich noch beklage,
und übe mich in Reue und Verzicht,
als wären's Knochen, die ich gern benage.
« Letzte Änderung: M?RZ 19, 2021, 08:47:28 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Schüchternheit
« Antwort #1 am: August 27, 2019, 14:07:32 »
Hi eKy!
Da hast Du 16 Zeilen mit nur zwei Reimendungen bestritten und dabei die Verse metrisch perfekt gefügt und zu einem konzisen Bild verknüpft! Großes Kino!!! Der benagte Knochen am Ende ist ein gewisser stilistischer Bruch, denn durch dieses Bild wechselt der bis dato ziemlich hohe Ton ins eher Handfeste. Das könnte Leser irritieren - aber ich mag es! :)
Ein bisschen zu dick aufgetragen ist für mich das "göttliche Gesicht", da würde mir ein Bild aus menschlicheren Sphären besser gefallen, doch das ist wirklich eine Kleinigkeit.
Ich finde übrigens, die emotionale Sackgasse, in die das LI geraten ist, wird durch die geringe Anzahl an Reimendungen, die ein gewisses sprachliches "Auf-der-Stelle-treten" anklingen lässt, hervorragend aufgegriffen - hier ist also die äußerst strenge Form nicht allein ein virtuoser Kunstgriff, sondern hat auch ein inhaltliches Korrelat. :)
Sehr beeindruckt gelesen, lieber eKy!
S.

gummibaum

Re: Schüchternheit
« Antwort #2 am: August 27, 2019, 18:58:35 »
Sehr eindrucksvoll, lieber Erich, wie du die Wirkung der einschüchternden Schönheit beschreibst, die den Begehrenden lähmt, ja, wie ohnmächtig durch das Gefühl eigener Unzulänglichkeit zusammensacken lässt.

Chapeau
gummibaum   

Erich Kykal

Re: Schüchternheit
« Antwort #3 am: August 27, 2019, 23:26:49 »
Hi Suf, Gum!

Ab und zu versuche ich mich daran herauszufinden, wie weit ich mit nur einem oder zwei Reimen komme, ohne dass es anfängt hingezwungen und konstruiert zu wirken. Damit das funktioniert, muss man die Reimworte natürlich mit Bedacht wählen, damit genug gleichklingende Möglichkeiten zu Verfügung stehen - mit "Mensch", "Melange" oder "Orange" kommt man nicht weit ...  ;D

Mit dem "göttlichen Gesicht" ist "göttlich schön" gemeint - so sieht das LyrIch seine Angeschmachtete - die Sphären sind hierbei also durchaus sehr menschlich ...  ;)
(Nebenbei möchte ich nicht wissen, wieviel an religiöser Frauenverehrung (Marienkult, Venus, Muttergottheiten, ...) immer schon erotisch induziert und motiviert war ...  ::) :o)

Vielen Dank für euer hochherziges Lob!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Schüchternheit
« Antwort #4 am: August 30, 2019, 21:49:06 »
ich denke eher, nicht die Angebetete ist schpchtern, sondern der Ich-Erzähler. Eine poetische Liebeserklärung, wie man so empfindet, überhöht, wenn man liebt.
Der tiefe Fall kommt am Ende, bis auf die Knochen, die an Skelett konnotieren, also den Tod.
Die Reue allerdings will mir nicht passen.
Schüchterne Menschen haben es schwer. ich gehöre nicht dazu, kann es aber nachfühlen.
LG von Agneta

Erich Kykal

Re: Schüchternheit
« Antwort #5 am: August 31, 2019, 00:04:13 »
Hi Agneta!

Natürlich ist das sprechende LyrIch das Schüchterle, ich hoffe, das war von vornherein klar (kann es sein, dass du Gummibaums Kommi falsch gelesen hast?)! Und die "Knochen", die am Ende benagt werden (und wo das LyrIch so tut, als tue es das gerne), sind ein Vergleich für seine Reue und den Verzicht, weil er nicht fähig ist, seine Schüchternheit und Gehemmtheit zu überwinden. Also tut er so, als wäre es immer so geplant gewesen, ein eher zölibatäres Leben zu fristen ...

LG, eKy
« Letzte Änderung: August 31, 2019, 00:05:59 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Schüchternheit
« Antwort #6 am: August 31, 2019, 18:40:28 »

hast mich wieder durchschaut, Herr Lehrer. GGG von Agneta

Erich Kykal

Re: Schüchternheit
« Antwort #7 am: September 12, 2019, 14:06:13 »
Hi Agneta!

Hach, wir "geradeheraus" gestrickten Typen sind leicht zu durchschauen!  ;) :D

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.