Interessanter Gedanke, Eleonara!
Das Bächlein, das zum Fluss wird und dann ins Meer einmündet ist ja in der Tat ein erprobtes und bewährtes Bild für die Lebensphasen eines Menschen und entsprechend könnte man das Aufgehen des Flusses im Meer mit dem Tod gleichsetzen und dann wahlweise den Gedanken anknüpfen, dass entweder das Individuum sich mit dem Tod endgültig im Naturganzen auflöst (Ganztod) oder aber in einen Kreislauf eintritt und (man könnte hier das Bild um Regenwolken erweitern) als (womöglich Verwandeltes) wieder zu neuem Leben erweckt wird.
Ich denke aber, dass die Allegorese des Bildes von den Entwicklungsstufen eines Fließgewässers nicht zwingend und ausschließlich auf ein ganzes Menschenleben bis hin zu seinem Tod übertragen werden muss.
Goethes Sonett "Mächtiges Überraschen", das mit einem ähnlichen Bild arbeitet, ist in einen Zyklus eingegliedert, der sich der Liebe widmet (das Goethe'sche Thema schlechthin). So könnte also z. B. das Schicksal des Baches auch verschiedene Phasen menschlichen Zusammenfindens beschreiben. Wieder eine andere Möglichkeit wäre, das Gedicht als poetisches Gegenstück zum Bildungsroman aufzufassen. Und zuletzt könnte man es natürlich auch als Naturbeschreibung stehen lassen, so wie sie ist - eine Deutungshaltung, die uns vielleicht widerstrebt, weil die Tradition der bürgerlichen Lyrik des 19. Jahrhunderts uns den Reflex antrainiert hat, dass jede lyrische Naturbeschreibung immer auf den Menschen zu übertragen ist, eine Haltung nichts desto trotz, die auf weitaus ältere Traditionen zurückgreifen könnte, die weniger Anthropozentrisch geprägt waren und mehr das Naturganze im Blick hatten.
Viele Grüße,
S.