Das Alter kommt in Schüben, sagt Erna. Eine Weile bleibt alles gut, dann wirst du plötzlich wieder schwächer. Jetzt, mit 89, steht sie an der Heizung und friert. Seit draußen Frost ist, wird ihr auch drinnen nicht mehr warm. Sie verachtet sich regelrecht dafür. Mit mir ist nichts mehr los, klagt sie.
Ich hätte damals vom Turm springen sollen. Aber als ich da oben stand, merkte ich, wie schwer es ist. Ich war zu feige. Und was hätten die Kinder von mir gedacht? Kein würdiges Beispiel!
Warum kann man nicht einfach tot umfallen? Schlecht eingerichtet ist das. Ich beneide meine Freundin. Es ging schnell und sie hat Ruhe.
Mit 55 hatte Erna doch noch den Führerschein gemacht. Da waren die Kinder endlich groß. Dann war sie oft verreist. Vieles nachholen. Menschen sehen, Kultur begreifen, Soziales. Erna regte sich heftig auf, wenn etwas wieder ungerecht zuging. Noch heute schreibt sie ihre Leserbriefe.
Aber jeden Tag wird ihr Gang jetzt unsicherer. Sie stützt sich auf, sucht wieder die Brille. Manchmal aber stellt sie noch den Stuhl auf den Tisch und steigt hoch, um die Gardine zurechtzuzupfen. Ich bin wieder gefallen, klagt sie.
In ein Altersheim gehen? Nein! Entschiedene Abwehr. Nur über Krankheit reden will ich nicht. Erna hat ihre Meinung. Ärzte taugen meist nicht viel. Schwiegertöchter sind schwierig. Und soziale Dienste, die für sie den Einkauf machten, hat sie gleich wieder abbestellt. Ich will keine fremden Leute im Haus, sagte sie.
Etwas schwerhörig wird sie. Als eines der Kinder, das sie besucht, darum laut zu ihr spricht, weint sie. Jetzt schreist du mich schon an, weil ich nicht mehr gleich verstehe.
Warum nur heute die Kinder nicht angerufen haben? Sie wissen doch, dass ich nicht schlafen kann und denke, sie sind im Verkehr verunglückt.
(aus dem Fundus)