Autor Thema: Das Frauenhaar  (Gelesen 1193 mal)

Seeräuber-Jenny

Das Frauenhaar
« am: Oktober 08, 2022, 04:15:11 »
Frauenhaar, ob blond, ob braun,
gilt als schönster Schmuck der Fraun.
Feuerrot und silbergrau
ist es gleichfalls eine Schau.

Ob als kurzer Bubikopf,
ob als ellenlanger Zopf,
sexy ist das Frauenhaar,
wurde deshalb zur Gefahr

für die unbeherrschten Herrn.
Die sehn freie Fraun nicht gern,
und die wilde Weiblichkeit
war geächtet lange Zeit.

Frau zu sein galt nun als Fluch.
Unter Haube, Schleier, Tuch
wurde’s Frauenhaar versteckt,
züchtig hochgesteckt, geschneckt.

Aber mit vereinter Kraft
haben wir es bald geschafft.
Vieles ist schon anders hier,
wir erobern das Revier.

Schlimmer ist es im Iran.
Dort regiert ein alter Mann.
Frauen sind noch untertan,
und im Namen des Koran

gar zum Freiwild auserwählt,
werden ausgepeitscht, gequält,
vergewaltigt, umgebracht,
drangsaliert bei Tag und Nacht.

Doch die Frauen sagen: „Nein!
Wir wolln keine Sklaven sein!“
Reißen runter den Hijab,
schneiden sich die Haare ab.

Kämpfen mit Löwinnenmut
für die Freiheit bis aufs Blut.
Bart ist ab, und wunderbar
weht im Wind das Frauenhaar.
« Letzte Änderung: Oktober 11, 2022, 13:45:50 von Seeräuber-Jenny »
Ideale sind wie Sterne. Wir erreichen sie niemals, aber wie die
Seefahrer auf dem Meer richten wir unseren Kurs nach ihnen.
Carl Schurz

Erich Kykal

Re: Das Frauenhaar
« Antwort #1 am: Oktober 08, 2022, 20:00:44 »
Hi Jen!

Gute Botschaft! Hatte als Mann nie Probleme mit mir vorgesetzten oder talentierteren Frauen. Diese Perfidie, Unterdrückung als Kulturgut und Religion zu tarnen, damit nur ja keiner dran zu rütteln wagt, ist besonders verwerflich und zeigt erneut die Dummheit so vieler Kleingeister, die derlei kritiklos akzeptieren, egal ob Mann oder Frau.

Tipps:

Dass ich Verkürzungen überhaupt, und um Reimes willen schon gar nicht mag, ist nicht neu. Das "Fraun" in S1 und S3 macht mir Grusel!

S4Z3 - "wurde" reicht da völlig für eine klare, grammatikalisch korrekte Aussage. Das "'s" hintendran ist überflüssig, und als extreme Verkürzung auch nicht schön.

S9Z1 -  Der "Löwinnenmut" muss in dieser Zeile, damit es sich metrisch ausgeht, dermaßen falsch betont werden, dass mir erneut der erwähnte Grusel aufsteigt - aber heftig!  ;)

Dieses ganze zusammengesetzte Wort ist eigentlich nur auf der ersten Silbe zu betonen, auf "Lö".
Wie wäre es mit: "Kämpfen mit vereintem Mut"? - Kein metrischer Holperer!


Sehr gern gelesen!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Das Frauenhaar
« Antwort #2 am: Oktober 10, 2022, 13:03:56 »
Hi Jen!

Kennst Du "Am Turme" von der Droste? https://de.wikipedia.org/wiki/Am_Turme
Ein frühes emanzipatorisches Lied, welches bereits das im Wind flatternde Frauenhaar als Befreiungsmetapher verwendet.

Hoffen wir allesamt, dass die primitiven Unterdrücker bald im historischen Gruselkabinett entsorgt sind... denn hoffen kann man wenigstens...
Der Weg zur Einebnung patriarchaler Strukturen ist insgesamt sicher noch lang, steinig und wird wohl auch noch manchen Um- und Irrweg beinhalten... dass man sich schon freuen würde, wenn Frauen im Iran nicht mehr für Ihr als sündig deklariertes äußeres Erscheinungsbild totgeschlagen würden, sagt viel darüber aus, wie lang der Weg noch ist.

Deine Verse wollen allen Mut machen, die auf der richtigen Seite der Geschichte stehen! Das ist sehr schön und hebt meine Laune! :)

Deine streng trochäisch und vierhebig-siebensilbige Versform mit Paarreimen erinnert ich dabei übrigens - das meine ich jetzt nicht als Kritik! - an die in klassischen Lurchiheften verwendete Lyrik (wobei hier, glaube ich, meist ein wechselndes Reimgeschlecht und damit ein Wechsel in der Silbenzahl zum Tragen kommt). :) Indem Du hier so formstreng und zugleich "volkstümlich" dichtest, könnte auch ein Kind Deine Verse durchaus goutieren; und bei den Jüngsten muss ja die gesellschaftliche Veränderung auch ansetzen.

Übrigens mag ich den "Löwinnenmut", der den Trochäus einmal aufbricht - für meine Ohren zwar einerseits auch ein Stolperer aber andererseits auch eine Erholung von der bis dato ziemlich hart durchgezogenen metrischen Gebundenheit.
Bei den von eKy monierten Verkürzungen würde ich mich hingegen meinem Vorredner vorsichtig anschließen.
Und ein kleiner Dreckfuhler in S2Z2: als anstelle von aks. :)

LG!
S.

Seeräuber-Jenny

Re: Das Frauenhaar
« Antwort #3 am: Oktober 10, 2022, 14:59:22 »
Hi Erich, hi Sufnus,

das Gedicht ist entstanden, weil es mir sehr wichtig ist, den Freiheitskampf der Frauen im Iran auch von hier aus zu unterstützen. Es ist vor allem für den mündlichen Vortrag gedacht. Die von dir, lieber Erich, beanstandeten umgangssprachlichen Stellen, die beim Schriftlichen unschön auffallen ("Fraun", "wurde's", "wolln"), wirken im Redefluss stimmig.

Ja, ich mag diese Kinderreime, die schlicht sind und sich einprägen, und wenn Kinder bei den Lesungen dabei sind, wird auch meistens gelacht.

Ich habe das Gedicht am Samstag zum ersten Mal öffentlich vorgetragen. An der Stelle, an der es um die Verhüllung geht, habe ich mir ein großes Tuch um den Kopf gebunden und am Schluss diesen symbolischen Hijab runtergerissen und eine Haarsträhne abgeschnitten, wofür es Applaus und ein persönliches Dankeschön von einer jungen Iranerin gab, deren Mutter früher auch andauernd von der Sittenpolizei belästigt wurde. Doch wie eine Künstlerin in einer Kultursendung sagte, haben sich die mutigen iranischen Frauen in den vergangenen 42 Jahren der Unterdrückung durch die Fundamentalisten stets widersetzt, im Privaten, an den Universitäten und auf der Straße, mal leise, mal laut und heute unüberhörbar und, wie wir alle hoffen, unbesiegbar.

„Löwinnenmut“ - der willkürliche Wechsel in den Daktylus mutet eigenartig an, doch sind wechselnde Versmaße in der Lyrik nicht ungewöhnlich. Etwaiges Holpern lässt sich im mündlichen Vortrag leicht überspielen, weil es am Schluss laut und pathetisch wird. Er ist für mich die passende Metapher. Alles andere erschiene mir zu schwach. Sie spielt auf den geflügelten persischen Löwen an, den Mantikor, den „Menschenfresser“. Im Mittelalter wurde dieses Fabelwesen zum Symbol der Tyrannei, der Unterdrückung und zur Verkörperung des Bösen.

Löwen leben in Rudeln. Die Männchen sind sehr stark, aber die Weibchen sind in der Überzahl. Während die Löwinnen normalerweise ihr Leben lang beim Rudel bleiben, wechseln die Löwen nach ein paar Jahren, meist unfreiwillig, das Revier. Das Revier wird von Männchen und Weibchen gemeinsam verteidigt. Mit „Löwinnenmut“ – viele junge Löwen sind auch dabei - wird es dem iranischen wohl gelingen, den tyrannischen Mantikor in die Wüste zu schicken. Dann könnten die Vielen, die im Exil ein Nomadendasein fristen, in den Iran zurückkehren, und es könnte endlich Frieden herrschen, am besten, wie ich denke, in einem säkularen Staat.

Danke, lieber Sufnus, für das sehr schöne Gedicht von Annette von Droste-Hülshoff, das ich noch nicht kannte. Mein Dichterfreund Hel hatte vorgeschlagen, für das gebändigte Haar auch das Wort „geschneckt“ zu verwenden. Nachdem ich nun „Am Turm“ gelesen habe, finde ich es wichtig, die Schneckchen des Biedermeier zu erwähnen. Ein tiefgründiges Gedicht mit wunderbaren Metaphern, das, wie man sieht, noch nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat.

Dass Droste das Bild vom Turm gewählt hat, ist vielleicht nicht zufällig. Ich könnte mir vorstellen, dass sie auf Rapunzel anspielt, die mit ihren langen Haaren im Turm gefangen gehalten wird. Die Wurzeln dieses Märchens sind in der Antike zu finden, u.a. im babylonischen Etana-Mythos, in dem der König Etana der Göttin Ishtar das magische Gebärkraut (später: Rapunzel) entreißt. Dieses Kraut förderte oder unterbrach die Schwangerschaft. Es steht symbolisch für die sexuelle Selbstbestimmung der Frau, die seit Beginn des Patriarchats unterdrückt wurde. In unserem Kulturraum wurde die Göttin dann zur bösen Hexe im Märchen degradiert.

Das Haar galt im Altertum als Sitz der Seele. Langem Haar wurde Zauberkraft zugesprochen. Beim Flechten eines Zopfes wird abwechselnd der linke und rechte Strang jeweils zwischen die beiden anderen gelegt. Dieses Prinzip versinnbildlicht gegenseitige Fürsorge, aber auch völlige Gleichberechtigung in der Muttersippe. Die drei Stränge stehen für die Tochter, die Mutter und die Großmutter. In seiner Abfolge bis zum unterem Ende steht der Zopf für die Unendlichkeit der Generationen von Müttern. Daher ist er im Märchen von Rapunzel auch ungewöhnlich lang. (Quelle: Gabriele Uhlmann, Rapunzel)

Liebe Grüße
Jenny
« Letzte Änderung: Oktober 10, 2022, 23:36:24 von Seeräuber-Jenny »
Ideale sind wie Sterne. Wir erreichen sie niemals, aber wie die
Seefahrer auf dem Meer richten wir unseren Kurs nach ihnen.
Carl Schurz

Sufnus

Re: Das Frauenhaar
« Antwort #4 am: Oktober 12, 2022, 15:17:59 »
Hi Jen!
Sehr spannende Ausführungen zur "Kulturgeschichte der (weiblichen) Frisur" - die Verbindungen von Rapunzel zu alten Mythen sind wirklich interessant und ergiebig. :)
LG!
S.