Autor Thema: Tage  (Gelesen 1283 mal)

gummibaum

Tage
« am: August 31, 2018, 22:42:57 »
Wie langsam schritt der Tag voran,
als ich noch Kind war und entdeckte,
ein Wort zum Zauberstab gerann
und ersten Sinn in manchem weckte.

Wie blind rast jetzt der Tag vorbei,
es bleiben meistens keine Spuren,
und das Ereigniseinerlei
zerspänt der Kinderzeit Gravuren.

So wird die Seelenlandschaft plan,
es wächst das Selbstvergessen,
und klopft ein Tag der Kindheit an,
so weiß ich kaum mehr, wessen…

Erich Kykal

Re: Tage
« Antwort #1 am: September 01, 2018, 15:07:51 »
Hi Gum!

Sehr gut gedichtet!  :)

auch ich empfinde das so und habe zuweilen schon darüber geschrieben. Mit zunehmendem Alter verlernen wir, die Wunder am Wegesrand wahrzunehmen und auszukosten. So vergehen die Tage ohne Erinnerungswürdiges, weil wir eben jenen Wunderblick der Kindheit nicht mehr haben, der einst all die kleinen Wunder, alles Neue schaute!
Und ohne Erinnerungen ist die Zeit wie verflogen, wie nie gewesen.
Wir sind, woran wir uns erinnern und was wir daraus lernten. Wird die Distanz zu groß, verschlingt Vergessen mehr und mehr von dem, was uns einst formte. Aber wir haben es uns ja längst in der Illusion bequem gemacht, wir hätten "Kontrolle" und "Übersicht", "Weisheit" und "Durchdringung". Ein jämmerlicher Tausch für die Gnade, alles neu und aufregend finden zu dürfen, alles neu zu erfahren und zum ersten Mal zu erleben!
Aber so ist eben das Leben. Es gibt nur EIN erstes Mal für alles, nur EINMAL darf alles ein Wunder sein. Es liegt an uns, das Leben so zu gestalten, dass es genug erste Male geben kann bis zum Ende.  ;)

Sehr gern gelesen!  :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: September 01, 2018, 21:15:18 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Tage
« Antwort #2 am: September 01, 2018, 15:16:49 »
Ein toller Kommentar, lieber Erich, der nicht nur das Gedicht gut interpretiert, sondern auch aus eigener Wahrnehmung des darin Gestalteten viel zusätzlich Wahres beiträgt.

Mt Freude gelesen.

Einen schönen Tag wünscht
gummibaum

cyparis

Lieber gummibaum -
« Antwort #3 am: September 03, 2018, 12:50:29 »
Wie langsam schritt der Tag voran,
als ich noch Kind war und entdeckte,
ein Wort zum Zauberstab gerann
und ersten Sinn in manchem weckte.

Wie blind rast jetzt der Tag vorbei!
Es bleiben meistens keine Spuren.
Und das Ereigniseinerlei
zerspänt der Kinderzeit Gravuren.

So wird die Seelenlandschaft plan.
Es wächst das Selbstvergessen,
und klopft ein Tag der Kindheit an,
so weiß ich kaum mehr, wessen…

Der letzte Vers erschließt sich mir nicht.
Worauf bezieht sich das wessen?

Einer unserer Relativitätsforscher machte das simpel und unvergeßlich deutlich:

Bist Du 10 Jahre alt, so ist ein Jahr ein Zehntel Deines Lebens.
Bist Du 70 Jahre alt, ist ein Jahr nur noch ein Siebzigstel.
Kein Wunder, daß die Jahre uns dazu anleiten, schöne und gute Erinnerungen in die restliche, kurze Zeit hineinzustopfen.

Hier ein passender ? Schiller-Spruch:


Dreifach ist der Schritt der Zeit:
Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,
Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen,
Ewig still steht die Vergangenheit.


Alles ist relativ:
Gegen mich bist Du ein Jüngling so jung an Jahren!

Lieben Gruß
von
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Erich Kykal

Re: Tage
« Antwort #4 am: September 03, 2018, 15:46:39 »
Hi Cypi!

Das "wessen" wird verständlich, wenn du die Weglassung (da in der Vorzeile schon erwähnt) wieder anbringst:

und klopft ein Tag der Kindheit an,
so weiß ich kaum mehr, wessen Tag der Kindheit ...

Jetzt klar?  ;) Alles korrekt - ich finde diese Wendung sogar sehr elegant. Auch Rilke beendete so oder ganz ählich ein Gedicht, wenn ich nicht irre.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re: Tage
« Antwort #5 am: September 08, 2018, 11:11:57 »
Lieber Erich,

hab Dank für Deine fundierte Erläuterung!
Jetzt ist mir alles klar. :-*

Samstagsgruß
von
Cypi
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte