Der Spiegel
Schon eine ganze Weile beobachtete der junge Berber Saad die Frau, die in der Ebene vor der alten Oufella, der Kasbah, auf Agadirs Hügel stand. Unbeweglich schaute sie abwechselnd auf die Inschrift am Abhang des Hügels „ Gott, König,Vaterland“ und auf die dürre Grasnarbe, die das Gebiet davor großflächig bedeckte.
Nach dem Erdbeben 1960 wurde alles zubetoniert, um die Seuchengefahr zu bannen, die von mehr als zehntausend Toten hätte ausgehen können. Niemals mehr war hier etwas gewachsen, hatte je wieder etwas geblüht. Fast, als wolle die Natur die Opfer nicht verhöhnen, das Grauen nicht überdecken.
„Die Frau steht genau dort, wo sich das Zentrum von Talborjt, dem so genannten „Europäerviertel“, damals befunden haben muss“, dachte Saad. „Was mag sie hier wollen?“
Seine Großonkel hatten ihm von dem Erdbeben erzählt. Jeder hatte eine andere Geschichte. Der eine meinte, rote Schleier gesehen zu haben, die sich wie eine Brut von Schlangen auf alles legte. Der andere wusste von dunklen Nebeln, die alles verhüllten. Ein Inferno. Die Erde hatte sich aufgetan, um alles zu verschlingen, was darauf lebte. Nur Trümmer blieben zurück. Saad selbst war der Nachfahre eines Waisenjungen, dessen Familie komplett ausgelöscht worden war.
Die fremde Frau hatte europäische Züge, ihre grau durchsetzten Haare mochten einmal dunkel gewesen sein. Einzelne Streifen jedoch waren von orangefarbenem Henna durchzogen.
Sie wirkte nicht wie eine Touristin, die die Ruinen der alten Festung fotografiert und dann zurück fährt ins Hotel, um am Buffet die vielfältigen Köstlichkeiten zu genießen. Sie wirkte in sich versunken, allein, irgendwie verloren.
So, als sei sie auf der Suche nach etwas.
Nach einer Weile ging sie langsamen Schrittes vorwärts, schaute dabei auf den Boden. „Vielleicht hat sie einen Ohrring verloren,“ dachte Saad und überlegte, seine Hilfe anzubieten. Irgendetwas aber hielt ihn davon ab. Ihr ernster Gesichtsausdruck vielleicht, die Traurigkeit, die sie umflorte.
Saad folgte ihr unbemerkt. Sie lief nach rechts, nach links, ziellos und doch ruhig. Irgendwann bückte sie sich, kniete nieder, ihr brauner Rock streifte den Boden. Es wirkte, als würde sie beten.
Sie hielt eine Scheibe in den Händen, die im Sonnenlicht glänzte. Die Scherbe eines alten Spiegels, eines sehr alten Spiegels.
Saad näherte sich und fragte leise: „ Madame, suchen Sie etwas? Kann ich helfen?“. Sie wirkte nicht überrascht, so, als habe sie ihn längst wahrgenommen. Sie schaute in die Scherbe, die nun beide Gesichter spiegelte. „Das ist eine Antiquität. das dürfen Sie nicht mitnehmen“, mahnte Saad, der im Museum arbeitete, das alles ausstellte, was die Zerstörung durch das Erdbeben dokumentierte.
Auch er blickte nun auf die Spiegelscherbe. Er meinte, eine gewisse Ähnlichkeit in den Gesichtszügen zu erkennen.
„Ich suche nicht mehr, ich habe gefunden. Manchmal muss man in einen alten Spiegel schauen, um sich selbst zu sehen und seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen“, antwortete die fremde Frau und reichte ihm lächelnd die Scherbe.