Autor Thema: Wind  (Gelesen 980 mal)

Eisenvorhang

  • Gast
Wind
« am: Februar 24, 2020, 18:55:56 »
- wind, umschließe meine mitte
sehnsucht, sehnsucht, fühle ich
führe meine schwachen schritte
wieder in das sonnenlicht

lass, was war, die alte zeit
in die leere fremde fließen
sehnsucht, sehnsucht, ewigkeit
soll der frost für immer schließen

draußen dunsten matte wälder
wehmut legt sich auf den see
sterne werden immer älter
schmerzverziert erstrahlt der schnee

wind, umschließe meine wangen
küss das wunde herz gesund
wehe mich aus bittrem bangen
in das zarte erdenrund

sehnsucht liegt in meiner mitte
liebe, liebe, spüre ich,
sieh doch meine schwachen schritte
wollen und vermissen dich.

keiner kann das wieder richten
reue tanzt im bleigewand
schwer bin ich von den gewichten
ich versink im sehnsuchtssand -

schau: was war das wird nie werden
sollte einfach nicht geschehn
seltsam ist es hier auf erden
diesmal winkt kein wiedersehn -

Sufnus

Re: Wind
« Antwort #1 am: Februar 25, 2020, 12:53:46 »
Hi EV! :)
Hier teilst Du mit uns ein Gedicht, das sich durch große formale Ebenmäßigkeit auszeichnet, was mir sehr gut gefällt :) (ohne dass ich einen formal freien Text nicht auch genieße).
Jede Strophe besteht aus vier Zeilen und jede Zeile lässt sich wiederum als vierhebiger Trochäus lesen. In allen Strophen wechseln sich weibliche und männliche Kadenzen ab und das Gedicht ist durchgängig kreuzgereimt. Die zweimalig auftretenden, unreinen Reime ("ich - licht" und "wälder - älter") lockern dieses feste Gefüge nur ganz leicht. Insgesamt überwiegt aber der Eindruck von einer sehr formstreng gebundenen Sprache.
Vor diesem Hintergrund schaue ich dann ein bisschen gegen die durchgängige Kleinschreibung und die inkonsistente Zeichensetzung an.
Ich hab das irgendwann anders schon mal geschrieben, dass ich jede Form der Orthographie in einem Gedicht statthaft finde, wenn diese zum poetologischen Konzept des jeweiligen Textes passt und etwas ausdrückt. Ein freies, "modern" oder postmodern gehaltenes Gedicht braucht sich meines Erachtens nicht an Schreibregeln zu halten - das Aufbrechen der Regeln ist da womöglich gerade Teil des Konzepts. Auch kann der Verzicht auf Großschreibung neue Bedeutungsebenen schaffen. Bei deinem hier vorgestellten Werk wirkt die Kleinschreibung für mich eher wie ein etwas überflüssiges Dekor.
Und was mir auf der formalen Ebene auch noch nicht so ganz einleuchtet, das ist die Wiederholung der Reimworte von S1 in S5. Eigentlich wird dadurch das Gedicht für mich abgeschlossen. Dass es danach noch zwei Strophen weiter geht, wirkt auf mich unbalanciert.
Inhaltlich finde ich aber die große Innigkeit, mit der die Trauer des LI geschildert wird, sehr berührend und ich lasse mich gerne durch die Strophen tragen. Dabei helfen auch die gekonnt eingesetzten Wortwiederholungen (Geminationen) und die zahlreichen Alliterationen sehr.
Also gerne gelesen, lieber EV! :)
S.

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Wind
« Antwort #2 am: Februar 25, 2020, 15:59:24 »
Hallo Sufnus,

vielen Dank für Deine Zeit und vor allem danke für Deine ausgereiften Kritiken!

Kleinschreibung verwende ich, wenn ich Gleichgültigkeit verweben will.
Am Ende des Gedichts gibt es ohne eines Bezuges kein Wiedersehen.
Mit der Kleinschreibung will ich der Sache Wert entziehen - es gibt auch Werke, in denen ich penibel darauf achte und in Regelmäßigkeit scheitere. :))
Der Anbeginn meines lyrischen Schaffens war für mich sehr schwer. Erst vor ein paar Tagen war ich bei meiner Mutter und stand mit ihr gemeinsam im Bad als sie mich fragte, ob ich ins Klo will.  O0

Nach den Jahren wünsche ich mir sehnsüchtig, dass ich in meiner Jugend der Sprache treu geblieben wäre, anstatt sie gegen die Bierflasche zu tauschen.
Davon lasse ich mich aber nicht beirren oder gar aufhalten.

Das Leben heißt Streben!

vlg

EV

Agneta

  • Gast
Re: Wind
« Antwort #3 am: M?RZ 01, 2020, 22:54:43 »
ein sehr gefühlvolles Gedicht, lieber EV. Der Wind als Sehnsuchtsträger und Freund, so sehe ich ihn auch oft für mich.
Die letzten beiden Strophen würde ich fast weglassen. Die anderen sind sehr stark. Und implizieren die letzten, die so ein bisschen wie angehängt wirken. Aber vielleicht Geschmacksache.
LG von Agneta

Erich Kykal

Re: Wind
« Antwort #4 am: M?RZ 02, 2020, 17:51:47 »
Hi EV!

Zwei Stellen hätte ich eleganter zu formulieren versucht, aber das sind Vorlieben des Sprachgeschmacks.

Sehr gern gelesen, dieses schöne Gedicht - bis auf die "bemüht-künstlerische-alles-klein-schreibe-attitüde", die den Lesegenuss nach meinem Gespür mindert und unnötig erschwert.  ::)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Wind
« Antwort #5 am: M?RZ 02, 2020, 18:55:22 »
Hallo Agneta!

Ich danke Dir!


Hallo Erich,

welche Stellen und wieso hältst Du Dich zurück? Nur zu!
Ich bin gern immer lernfähig und sowieso neugierig.

PS: Ich kann es auch groß schreiben - ich experimentiere halt auch viel. In der Hoffnung Erfahrung zu sammeln.

Ich danke Dir!

vlg

EV