Autor Thema: Ein Psychopath wird flügge  (Gelesen 1057 mal)

Erich Kykal

Ein Psychopath wird flügge
« am: Oktober 08, 2016, 12:57:44 »
Mir sind die Schranken fortgenommen aus dem Denken,
kein Stück Moral in mir plant noch ein Gnädigsein
mit allem, was mir Lust bereitet – mir allein
gehört, was ich mir einverleiben will und schenken.

Was immer dies für Konsequenzen hat für jene,
die mir gehören werden – es betrifft mich nicht,
denn kein Gewissen hält in mir noch Strafgericht,
und frei und unverwundbar reifen meine Pläne.

Zuletzt erlöst bin ich aus auferlegten Banden,
die, aus Erziehung und Bedenkentum geknüpft
verhinderten, dass meine wahre Seele schlüpft
aus allen Schalen, die ihr fremde Normen fanden.

So bin ich endlich frei, mich künftig zu entfalten:
ein Weg der Klarheit, den ich fürderhin - geweiht
von Hemmungslosigkeit – beschreite für die Zeit,
die mir noch bleibt, die dunklen Träume zu gestalten.

So komm, geliebtes Opfer, nun in meine Netze,
den Geist betäubend, bis er viel zu spät begreift,
dass er wie eine Frucht dem Biss entgegenreift,
mit dem ich zärtlich erst, dann tödlich dich verletze!

Mein heißer Wille fängt wie meine kalten Arme
dein Leiden ein, auf dass es ganz in mir verbleibt
und meinem süßen Wahnsinn neue Blüten treibt,
bis ich mich endlich deines Überrests erbarme.

Und selbst was wirken könnte wie ein Akt der Gnade
ist mir Erfüllung erst und reiner Lustgewinn,
verleiht mir frische Kraft und neuen Lebenssinn:
Dein zelebrierter Tod wird meine Bundeslade!

Selbst wenn sie Jahre später mich vielleicht erwischen
und ängstlich richten mit der Schwachen Unverstand,
wirst du mein Opfer bleiben, ganz mir eingebrannt,
und darfst mein Hinbegehren jederzeit erfrischen.

So wird es sein, und keine Macht kann es verhindern!
Was lang in mir verborgen war, ist nun erwacht
und hat mich unangreifbar hart und stark gemacht,
und keiner Träne Glänzen wird den Hunger lindern.
« Letzte Änderung: Oktober 08, 2016, 13:01:33 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re: Ein Psychopath wird flügge
« Antwort #1 am: Oktober 10, 2016, 20:03:26 »
Lieber Erich,

das ist ebenso gut in Verse gesetzt wie grausig.
Werd ich wohl nicht noch einmal lesen.
Allein die Vorstellung eines solchen Werdegangs läßt mich schauder.
Wehe, wenn er losgelassen.

Was geht in Dir vor, daß Du so viele dunkle Themen bedichtest?

Lieben Abendgruß
von
cypi
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Erich Kykal

Re: Ein Psychopath wird flügge
« Antwort #2 am: Oktober 10, 2016, 20:22:55 »
Hi Cypi!

Ich kenne meine dunkle Seite, weil ich sie zu umarmen gelernt habe. So gärt sie nicht in mir und kann mich nie verschlingen.

Nicht umsonst trage ich anderswo den Beinamen "Tenebrae" ...

Dort schrieb ich diese Antwort an eine Userin, die sich an "Das Schweigen der Lämmer" erinnert fühlte:

Interessant, dass du das erwähnst! Der Film "Das Schweigen der Lämmer" war auch das Vorbild für dieses Werk, das mir beim Schreiben vor Augen stand.
Sowohl die Getriebenheit des "Buffalo Bill", der begehrt, was er täglich sieht, bis er sich nicht mehr beherrschen kann und "tätig" wird, nur um in rettungslosen Wahnsinn abzugleiten, als auch die berechnende Gefühlskälte des hochintelligenten Soziopathen Hannibal Lecter, der sein Anderssein geradezu feierlich zelebriert.
Beiden Ausprägungen gemeinsam ist die Erlangung von absoluter Macht über andere, sei es Körper, Geist - oder beides.
Ich glaube, ein klein wenig von diesen Aspekten findet ein jeder in seinem Wesenskern, ob ihm das passt oder nicht. Damit müssen wir leben und zurechtkommen, und für die meisten sozialisierten Charaktere stellt das ja auch kein Problem dar. Aber wer hätte nicht schon mal - ganz heimlich bei sich - überlegt, wie es wohl wäre, alle Hemmungen und Sperren fallen zu lassen, um sich ganz und gar überlegen fühlen zu können, unbehindert von empathischen Überlegungen, Rücksichtnahme und sozialen Zwängen und Regeln ...
Dabei muss es gar nicht zu Lustmorden oder anderen lethalen physischen Kontrollverlusten kommen - den meisten genügt die Illusion von (emotionaler) Unverwundbarkeit und Allmacht, die sie empfinden (oder empfänden), wenn sie absolut unempathisch sein könnten.
Ich glaube sogar, solche Fantasien gehören bei uns dazu, um Frust und Zorn so abreagieren zu können, ohne dass es zu direkten Reaktionen kommt. In meiner Teenagerzeit, als gemobbtes Schulkind, hatte ich eine ganze Liste von "Feinden" sowie passender Todesarten für sie, die jede Menge Folter und Erniedrigung beinhalteten!
Mich nach einem Tort geistig damit zu beschäftigen, verhinderte wohl, dass ich irgendwann Amok lief ...

Aber das führt hier schon zu weit und vor allem fort von der eigentlichen Intention obigen Gedichts. Da wollte ich nur diesen Augenblick der Entscheidung beschreiben, wenn ein Soziopath zum Psychopath wird, weil er beschließt, seine Vorstellungen real zu verwirklichen, sich nicht mehr von Gesetzen und Konventionen oder der Angst vor Konsequenzen bremsen zu lassen. Für die Opfer eine Tragödie, aber aus der Sicht des Täters eine Erlösung, eine Befreiung, eine Katharsis - wie eine Metamorphose (was ja schon zum Schmetterling aus "Das Schweigen der Lämmer" passt, der diese Verwandlung symbolisiert: Aus der starren Puppe schlüpft agile Pracht, endlich frei, um zu fliegen: konzeptionelle Reinheit - vielleicht grausam und unsäglich, aber auf seltsame und verdrehte Art eben (zumindest für Außenstehende) auch faszinierend und vielleicht sogar irgendwie beneidet).

Tja, so komisch ist es zuweilen, Mensch zu sein ...

LG, eKy
« Letzte Änderung: Oktober 06, 2021, 23:32:21 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Curd Belesos

Re: Ein Psychopath wird flügge
« Antwort #3 am: Oktober 10, 2016, 23:45:21 »
moin moin Erich,

das ist phantastisch gut beschrieben, habe es mehrfach lesen müssen um nicht nur meinen Gedanken und Vorstellungen dabei nachzugehen, sondern auch um die des LyrI besser erfassen zu können.

LG
CB
Nur wenn du frei bist " IF " ....dann bist du ein Mensch

Erich Kykal

Re: Ein Psychopath wird flügge
« Antwort #4 am: Oktober 11, 2016, 01:23:54 »
Hi Curd!

Danke. Manche Aspekte der menschlichen Psyche lösen Abscheu aus, aber unleugbar auch Faszination.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re: Ein Psychopath wird flügge
« Antwort #5 am: Oktober 11, 2016, 08:54:39 »
Ja,

die Faszination des Bösen, Abgründigen, Brutalen.
Nicht umsonst habe ich Clive Barkers "Bücher des Blutes" verschlungen (bestialischer als Stephen King).

LG
Cypi
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Aspasia

  • Gast
Re: Ein Psychopath wird flügge
« Antwort #6 am: Oktober 11, 2016, 18:19:29 »
Lieber Erich,

in Deinem Gedicht ist vieles, was eine fehlgeleitete Sozialisierung nach sich ziehen kann (nicht muss), gut wiedergegeben, so gut, dass es spannend zu lesen ist. Aber auf einen echten Psychopaten trifft es nicht hundertprozentig zu. Grobe Abartigkeiten im Sozialverhalten bis hin zu Bösartigkeit und Kriminalität reichen dafür nicht aus, denn in den meisten Fällen spielen Emotionen eine Rolle. Auch Gefühlskälte ist letztendlich eine Emotion. Der echte Psychopath hat jedoch gar keine Gefühle: Er kann sich weder in die Gefühlswelt anderer Menschen hineindenken, er kann sich nicht vorstellen, dass und wie sie bei Verletzungen Schmerzen leiden, er reagiert auf aufwühlende Bilder gelangweilt, und er ist völlig angstfrei, z.B. auch dann, wenn er für ein Verbrechen von der Polizei gestellt wird. Er ist weder gefühlswarm noch gefühlskalt, er unterscheidet nicht zwischen Gut und Böse, ihm ist - kurz gesagt, alles egal. Hirnuntersuchungen haben ergeben, dass bei diesen Menschen ein Defekt vorliegt, und zwar offensichtlich in den Hirnregionen, die über den Augen sitzen.

Falls es Dich interessiert: In der "Crime" No. 8 ist zu diesem Thema ein umfassender Bericht des Neurowissenschaftlers Niels Birbaumer erschienen ("Gut und Böse sind keine Kategorien"), der entgegen langjähriger Meinung der Überzeugung ist, dass Psychopathen therapierbar sind, wenn es gelingt, die defekten Hirnregionen entsprechend zu aktivieren.

Meine Ausführungen wollen nicht dein Gedicht schmälern, das hervorragend beschreibt, wie ein Mensch zu einem seelischen Krüppel werden und sich in ein Monster verwandeln kann. Ich bin lediglich über den Begriff "Psychopath" gestolpert.

Sprachlich ist dein Gedicht natürlich - wie immer - hervorragend.

Lieben Gruß
Aspasia

Erich Kykal

Re: Ein Psychopath wird flügge
« Antwort #7 am: Oktober 11, 2016, 18:55:26 »
Hi Cypi!

Der Autor ist mir ein Begriff, aber diesen Titel kenne ich nicht.



Hi Aspasia!

Ich habe eher die landläufige Definition hergenommen. Du hast mit deinen Ausführungen natürlich recht, obwohl das auch nicht so ganz stimmt. Völlig gefühlskalt sind die wenigsten Psychopathen. Vor allem negative Gefühle (Wut, Hass, Zorn, Hybris) empfinden sie durchaus, und den Kitzel der Macht über andere sowie die Lust des Sadisten wissen sie auch zu genießen.
Die Emotionen kommen nur nie an die Oberfläche, können aber durchaus ihr Verhalten steuern.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Aspasia

  • Gast
Re: Ein Psychopath wird flügge
« Antwort #8 am: Oktober 11, 2016, 22:00:29 »

Vor allem negative Gefühle (Wut, Hass, Zorn, Hybris) empfinden sie durchaus, und den Kitzel der Macht über andere sowie die Lust des Sadisten wissen sie auch zu genießen.

Das ist richtig, ein Psychopath zeigt durchaus Verhaltensweisen, die wir als Emotionen einstufen, Lachen, Schreien, alles Mögliche. Die Crux aber ist: Der Psychopath empfindet Hass, Zorn usw. nicht als negativ, er wertet überhaupt nicht, weil er diese Regungen nicht als Emotionen wahrnimmt. Er empfindet sich auch nicht als Sadist, wenn er andere Menschen quält, weil er sich in diese Menschen und deren Empfindungen nicht hineinversetzen kann. Für ihn ist alles gleichermaßen "normal".