Mein lieber gum!

Du hast die bewundernswerte Eigenschaft, in sehr poetisch verfassten Versen, Themenfelder für die Lyrik zu öffnen, die als bis dato weitgehend unbesungen zu gelten haben. In diesem Fall also die klassische Adenom-Karzinom-Sequenz mit einer übertragenden Conclusio in der Tradition bürgerlicher Lyrik. Wirklich faszinierend!

In Strophe 1 wird ein Darmpolyp (ein gutartiger Tumor) geschildert, der aus der Schleimhaut (der sogenannten Mucosa oder Mukosa) des (Dick-)Darms hervorwächst.
Dieser an sich harmlose Tumor ist durch einen Stiel (Strophe 2) fest mit der Schleimhaut verbunden. Die Schleimhaut wird dabei mit einem weichen Kissen (alter Ausdruck: Pfühl) verglichen. So führt unser Protagonist also durch die Fixierung an die Schleimhaut ein recht unbewegliches Leben, was ihn mit Neid auf die Kotballen ("Stühle") erfüllt, die an ihm vorbeiwandern.
Daraufhin erfolgt in Strophe 3 die Inaktivierung sogenannter Tumorsuppressorgene (die in normalen Zellen eine Entartung verhindern) durch spontane Mutationen in einzelnen Zellen unseres Polypen. Die mutierten Zellen innerhalb des Polypen gewinnen einen Wachstumsvorteil durch den Wegfall der Supressorgene (die wie eine Bremse auf die unkontrollierte Zellvermehrung wirken), so dass es zur Überwucherung der gutartigen Zellen im Polypen kommt. Dabei gewinnen die mutierten Zellen auch die Fähigkeit, ihren angestammten Platz im Gewebe zu verlassen ("sich zergliedern und verbreiten") und zunächst in die nähere Umgebung einzuwandern (Migration), um dann schließlich Fernmetastasen zu bilden.
Das Ergebnis, Strophe 4, ist der Tod des Gesamtorganismus am manifesten Dickdarmkarzinom, womit aber auch der Tumor selbst stirbt.
Das Gedicht endet mit einer Warnung, "die kleinen Macker" nicht zu unterschätzen. Eine Empfehlung sich - z. B. zum Eintritt in die Rentenzeit - einer Dickdarmspiegelung zu unterziehen. Der Hintergrund ist, dass ein Dickdarmkarzinom üblicherweise nicht vom Himmel fällt, sondern sich in vielen kleinen Schritten aus einem gutartigen Adenom (= "Polyp") entwickelt, was einige Jahre in Anspruch nimmt. Wenn man also alle etwaig vorhandenen Dickdarmpolypen zu einem geeigneten Lebenszeitpunkt entfernt, hat man danach viele Jahre "Ruhe" und eine gewisse Sicherheit (100% Gewissheit gibts in der Medizin leider nicht) kein Dickdarmkarzinom zu entwickeln. Ein Alter von ca. 65 Jahren hat sich hier als Empfehlung für so ein Vorgehen ganz gut bewährt. Anders sieht es allerdings bei Personen aus, die aufgrund von Keimbahnmutationen (die bereits bei Geburt in jeder Körperzelle vorhanden sind) ein prinzipiell höheres Dickdarmkarzinomrisiko haben. Hier wird man wesentlich häufiger eine Darmspiegelung machen müssen ggf. sogar sehr frühzeitig zu ausgedehnten Operationen gezwungen sein. Das ist aber zum Glück weit weniger häufiger als der "normale" Weg zum Dickdarmkarzinom.
Ansonsten birgt das Gedicht natürlich - in Übertragung auf andere, durchaus nichtmedizinische Lebenswirklichkeiten - den generellen Rat, vermeintlich kleine Unruhestifter nicht so lange gewähren zu lassen, bis es zu spät zum Einhaltgebieten ist.

Ein ganz tolles Werk, lieber gum!

*den Hut zieh*
S.