Guten Morgen Erich,
schön, dich hier zu lesen.
Ja, ich rechne das Haiku, auch das Tanka, zu den modernen Gedichten. Das hat damit zu tun, dass wir Europäer eine eigene Haiku- und Tanka-Kultur ausgebildet haben. Denn, wie du richtig vermutest, hat unser Haiku- und Tankaverständnis kaum was mit dem Original zu tun.
Beispiel: Bis vor wenigen Jahren galt es als ausgemacht, dass ein Haiku das 5-7-5-Schema braucht. Folgt es diesem Schema nicht, ist es kein Haiku. Dass die Japaner, dieses Schema nie hatten, hat kaum jemand interessiert. Dieses Verständnis hat sich gewandelt. Heute herrscht ein allgemeines anything goes.
Ab wann ist ein Haiku Lyrik? Ich frage anders: ab wann ist ein Text ein Gedicht?
Meiner Ansicht nach, wenn er Stilmittel verwendet, z. B. Stabreime, Metaphern usw. Wenn er indirekt ausdrückt, was er sagen will, im Gegensatz zur Prosa, die direkter ist. Wenn er einen Sprachrhythmus einhält, nicht unbedingt Versmaß. Und Reime können sein, müssen aber nicht. Ein Haiku hat eher Halbreime.
So, in etwa, stelle ich mir ein Gedicht vor.
Zu deinem Beispiel: Das ist kein Haiku. Ein Haiku, im Gegensatz zum Senryu, bezieht sich auf die Natur. Ein Senryu auf die Stadt. Dein Beispiel ist Gedankenlyrik.
Ich nehme deine Frage auf und versuche
ein Beispiel.
Was ist ein Haiku?
Eine Amsel
die mich an den Schreibtisch lockt
Dieses Beispiel halte ich für besser. Allerdings ist es noch zu eindeutig. Ein Haiku sollte offen sein, also mindestens zwei Deutungen erlauben. Ich überlege, ob statt Schreibtisch einfach nur Tisch besser gewesen wäre?
Schwierig.
Bis dann!
Rocco