Autor Thema: Vier Worte  (Gelesen 1445 mal)

gummibaum

Vier Worte
« am: Oktober 03, 2015, 14:25:52 »
Es ist lange her. Ein Tag, an dem ich glaubte, etwas verschenken zu müssen. Einfach mal so. Und darum sagte ich irgendwann zu irgendwem: "Einen schönen Tag noch!" Der Angeredete schaute verdattert, er antwortete nicht. Es war klar, dass er mich nicht verstand, dass noch nie jemand so etwas zu ihm gesagt hatte. Ich schien eine fremde Sprache zu sprechen.

Ich ließ mich nicht entmutigen, weil ich doch noch immer dieses positive Gefühl verspürte und der nächste, mit dem ich zu tun hatte, bekam es gleich wieder zu hören: "Einen schönen Tag noch!" Die Reaktion war ähnlich, fast schlimmer, betretenes Lächeln, als hätte ich eine Prüfungsfrage gestellt, die peinliches Nichtwissen aufdeckte.

Aber ich habe es dennoch ein drittes und, wie ich mir vornahm, letztes Mal versucht und diesmal schien ich auf eine Goldmine zu stoßen. Aus der anfänglichen Verwirrtheit meines Gegenübers brach unvermittelt ein glückliches Schimmern und es formte ein einziges Wort: "Gleichfalls", stammelte es.

Ich war so erleichtert, dass jemand mich verstand. Es war an einer Würstchenbude geschehen und ich blieb, das heiße Würstchen in der Hand, noch eine Weile dort stehen und was passierte plötzlich? Zwei oder drei Würstchen wurden noch in der üblichen Weise verkauft. Aber dann, als ich den letzten Bissen schluckte, hörte ich ganz deutlich, wie der Würstchenverkäufer zu jemandem sagte: "Einen schönen Tag noch!"

Ich habe dann in den nächsten Tagen noch ein paar solche Versuche mit diesen vier Worten unternommen, dann ließ meine positive Stimmung nach.

Erst ganze fünf Jahre später fand ich sie wieder. Und das passierte in einer anderen Stadt und unter anderen Bedingungen und diesmal war ich verdattert. Man hatte mir eben klar gemacht, dass ich meinen Führerschein abgeben muss. Ich schwitzte nicht wenig und entschuldigte mich fortwährend, als die Beamten sagten: "Einen schönen Tag noch!" Ich nickte stumm. Aber sofort ging es mir besser. Ich sah ein, dass hier alles überraschend noch gut ausgegangen war und das nur wegen dieser Worte.

Und plötzlich dämmerte mir, dass sie meine Worte gesprochen hatten. Dass diese die fünf Jahre meines chaotischen Lebens von Mund zu Mund geflossen waren, um endlich hier wieder bei mir anzutreffen. Ich war überwältigt. Wenn meine Sprachschöpfung für so gute Laune sorgen konnte, wie ich sie jetzt wieder hatte, waren meine letzten fünf Jahre doch nicht so schlecht.

Freilich, wenn ich heute, wo fast jeder diese Worte kennt und verwendet und es sich damit besser gehen lässt, sagen würde: "Die sind von mir!" - man hielte mich für verrückt und würde es besserwisserisch bestreiten. Darum behalte ich diese Wahrheit auch für mich und wärme mich lieber an dem feinen Geheimnis.

(aus dem Fundus)

Erich Kykal

Re: Vier Worte
« Antwort #1 am: Oktober 03, 2015, 14:41:39 »
Hi, Gum!

Oberflächlich eine nette Geschichte um positive Lebenseinstellung. Unterschwellig ein interessantes psychologisches Lehrstück:

Zum Schluß legst du dem Erzählenden Worte in den Mund, die dem Leser Anlass geben, am gesunden Menschenverstand des Protagonisten zu zweifeln, nämlich indem er tatsächlich zu glauben scheint, ER hätte die - lang bekannte - Phrase "Einen schönen Tag noch!" erfunden und auf den Weg gebracht, und dass es obendrein genau dieselbe Kette von Weitergabe sei, die nach fünf Jahren wieder bei ihm angekommen ist!

Indem du also die Glaubwürdigkeit der Haupt- und Identifikationsfigur nachhaltig relativierst, indem du ihm logisches Urteilsvermögen und die objektive Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten absprichst, relativierst du gleichzeitig damit auch sein Gutmenschentum, seine vielleicht zu naive Einstellung zum Verströmen "positiver Energie" und ihrer Wertigkeit, wie es die weltfremden Esoteriker nennen würden.

Nun ist einerseits ein freundlich-respektvoller Umgang miteinander durchaus erstrebenswert, andererseits wird dieser Standpunkt hier offenkundig von jemandem vertreten, der selbst weltfern ist oder sogar nicht ganz zurechnungsfähig sein könnte. Ein Dilemma, mit dem sich jeder Leser hier auseinandersetzen muss - so zwingst du ihn, sich eigene, unabhängige Gedanken zum vertretenen Wertekanon zu machen, weil er der Leitfigur der Geschichte nicht so ganz vertrauen kann. Er muss hinterfragen, anstatt beizupflichten, muss eigene Erfahrungen gewichten, anstatt eine Verhaltensschablone bestätigt zu sehen oder zu übernehmen.

Wie gesagt, ein psychologisches Lehrstück für Fortgeschrittene - egal übrigens, ob dies nun tatsächlich auch so von dir geplant war oder nicht. ;)

Sehr gern gelesen und nach den eigenen bescheidenen Möglichkeiten befachsimpelt! :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Jonny

Re: Vier Worte
« Antwort #2 am: Oktober 03, 2015, 16:35:11 »
Diese schöne Geschichte passt gut in unsere Zeit, lieber gummibaum!
Du hast versucht das Feld um uns zu durchdringen, mit vier Worten.
Und es ist dir gelungen.
Einen schönen Tag noch!!!

Liebe Grüße
Jonny

gummibaum

Re: Vier Worte
« Antwort #3 am: Oktober 04, 2015, 14:45:16 »
Lieber Erich,

danke dir für deine ausführliche Antwort und positive Wertung. Die Analyse ist gut.

Danke, Jonny, für deine Worte.


LG gummibaum





 

cyparis

Re: Vier Worte
« Antwort #4 am: Oktober 04, 2015, 14:48:17 »
Lieber gummibaum,


das könnte beinahe von Kurt Kusenberg sein.
Ein größeres Lob fällt mir nicht ein.


Lieben Gruß
von
Cyparis
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