Autor Thema: Vom Regen in die Traufe  (Gelesen 864 mal)

Makaveli

  • Gast
Vom Regen in die Traufe
« am: Juli 27, 2014, 23:54:43 »
Ich würde so gern laut es schreien,
wo ist er geblieben, dieser Tag?
Der in Ferne immer vor mir lag,
man konnte Schultern, Ohren leihen.

Davon ließen wir uns längst befreien,
komm sage es mir - komm her und sag,
wie es dir nach wirklich stimmen mag -
einzeln stehen Glieder in den Reihen.

Als ich damals auf der Straß noch saß,
mit letztem Hemd und ohne Schuhe,
diese Tage, die ich fast schon vergaß,

sie liegen vor mir in der offnen Truhe.
An Tagen, als ich trocken Brot fraß,
lebt ich in der Gosse noch in Ruhe.

Erich Kykal

Re:Vom Regen in die Traufe
« Antwort #1 am: Juli 28, 2014, 12:20:16 »
Hi, Makaveli!

Ein Sonettversuch - mutig! Allerdings mit so einigen Schwächen behaftet, da dir offenbar manche Regeln des Sonetts nicht geläufig sind. Nun ist es ja so, dass diese heutzutage weiter gesteckt werden, bzw. nicht mehr so streng gehandhabt. Deshalb sprach ich auch nicht von Fehlern in dieser Hinsicht. Was allerdings hier zu monieren wäre, sind sprachliche Schwächen und der willkürliche Wechsel betonter und unbetonter Auftakte.

Dazu ein kleiner Exkurs:

Verszeilen haben Heber (betonte Silben). Je nachdem, wieviele Heber pro Zeile es sind und ob sie auf einer betonten oder unbetonten Silbe beginnen, haben die Formen verschiedene Namen. Die kannst du anderswo nachlesen (Wikipedia). Hier geht es um den Takt.
Bei einem Gedicht sollte man sich für eine Art Auftakt entscheiden und dabei bleiben, sonst kommt kein Rhythmus, kein harmonischer Fluss der Sprache zustande. Sonettzeilen zB sollten stets 5 Heber, unbetonte Auftakte und weibliche Kadenzen haben.
Kadenzen sind die Enden der Verszeilen. Endet die Zeile auf einer unbetonten Silbe, spricht man von weiblicher Kadenz, endet sie auf einer betonten Silbe, von männlcher Kadenz. In normalen Gedichten kann man die Kadenzen wechseln, man sollte dabei aber einem Gleichmaß folgen, zB in allen Strophen "wmmw", "wmwm" oder jeweils umgekehrt.

Zurück zum Sonett: 5 Heber pro Zeile, unbetonter Auftakt, weibliche Kadenz.
2 Quartette mit 2 umfassenden Reimen, also ABBA - ABBA oder ABBA - BAAB. Das hast du schon drauf.
2 Terzette mit 2 oder 3 Reimen, wobei die letzten beiden Zeilen nicht denselben Reim haben sollten (diese Regel ignoriere ich aber selber), auch das machst du schon tadellos.
Einteilung des Inhalts in These (1. Quartett), Antithese (2. Quartett), Synthese (Terzette), aber auch diese Regel befolge ich selbst nicht.

Du siehst, man kann heute selbst entscheiden, wie "klassisch" ein Sonett sein soll, je nachdem, wieviele der Regeln man befolgt. Allerdings sollte man erst richtige Sonette versuchen, ehe man sich entscheidet, Regeln zu ignorieren, so wie ein Maler erst naturalistisch malen können sollte, ehe er sich entschließt, abstrakt zu malen. Zurück also zu deinem Sonett:

Was richtig ist - dunkelblau, was hier falsch ist - rot.

Ich würde so gern laut es schreien, unbetonter Auftakt, 4 Heber, weibliche Kadenz
wo ist er geblieben, dieser Tag? betonter Auftakt, 5 Heber, männliche Kadenz
Der in Ferne immer vor mir lag, betonter Auftakt, 5 Heber, männliche Kadenz
man konnte Schultern, Ohren leihen. unbetonter Auftakt, 4 Heber, weibliche Kadenz

Davon ließen wir uns längst befreien, betonter Auftakt, 5 Heber, weibliche Kadenz
komm sage es mir - komm her und sag, betonter Auftakt, 4 Heber mit Metrikbruch, männliche Kadenz
wie es dir nach wirklich stimmen mag - betonter Auftakt, 5 Heber, männliche Kadenz
einzeln stehen Glieder in den Reihen. betonter Auftakt, 5 Heber, weibliche Kadenz.

Als ich damals auf der Straß noch saß, betonter Auftakt, 5 Heber, männliche Kadenz
mit letztem Hemd und ohne Schuhe, unbetonter Auftakt, 4 Heber, weibliche Kadenz
diese Tage, die ich fast schon vergaß, betonter Auftakt, 5 Heber mit Metrikbruch, männliche Kadenz

sie liegen vor mir in der offnen Truhe. unbetonter Auftakt, 5 Heber, weibliche Kadenz
An Tagen, als ich trocken Brot fraß, unbetonter Auftakt, 5 Heber mit Hebungsprall, männliche Kadenz
lebt ich in der Gosse noch in Ruhe. betonter Auftakt, 5 Heber, weibliche Kadenz


Eine einzige Zeile ist komplett richtig für ein Sonett: "sie liegen vor mir in der offnen Truhe."

Die Heber habe ich fett unterlegt. Du siehst, hier stimmt alles: Unbetonter Auftakt (sie), 5 Heber, weibliche Kadenz (-he). Genau so müsstest du alle Zeilen formen, das Schema beibehalten.


Zum Stilistischen:

Ich würde so gern laut es schreien,
wo ist er geblieben, dieser Tag?
Der in Ferne immer vor mir lag, Einen Satz wie einen Satzteil zu beginnen, kommt nicht sprachlich gediegen. Hier wäre besser, in der Vorzeile ein Komma zu setzen.
man konnte Schultern, Ohren leihen. WEM leihen? Hier fehlt Entscheidendes, nämlich ein Bezug.

Davon ließen wir uns längst befreien,
komm sage es mir - komm her und sag, Metrikbruch: Das "e" von "sage" muss weg.
wie es dir nach wirklich stimmen mag - Das "dir nach" ist ungewöhnlich als Formulierung. Hier leicht missverständlich. Besser: "wie es nach deiner Ansicht stimmen mag"
einzeln stehen Glieder in den Reihen.

Als ich damals auf der Straß noch saß, "Straß" ist als Verkürzung fürchterlich unlyrisch. Klingt mittelalterlich und unschön. Verkürzungen sollte man wo möglich vermeiden.
mit letztem Hemd und ohne Schuhe,
diese Tage, die ich fast schon vergaß, Metrikbruch: Das "schon" ist in dieser Zeile zuviel.

sie liegen vor mir in der offnen Truhe.
An Tagen, als ich trocken Brot fraß, Hebungsprall "Brot fraß" - da müsste noch eine Silbe zwischen rein.
lebt ich in der Gosse noch in Ruhe.


Du müsstest hier also die Auftakte angleichen, die Heberzahlen, die Kadenzen, 2 Metrikbrüche und einen Hebungsprall korrigieren und stilistisch manches verbessern. Ein Vorschlag dazu:

Wie gerne würd ich in die Welt es schreien:
Ach, wo nur blieb der gute Geist von Tagen,
die einst vor langer Zeit noch vor mir lagen,
an Leben mir das Nötige zu leihen?

Doch davon half der Alltag uns befreien.
So komm, du guter Geist, und lass dich fragen,
wieviel die Bilder noch an Wahrheit tragen.
Vereinzelt stehen Glieder in den Reihen.

Denn als wir damals auf der Straße saßen,
im letzten Hemd und ohne feste Schuhe,
in diesen Tagen, die wir fast vergaßen -

sie liegen vor mir in der offnen Truhe.
Als in der Gosse wir an Resten fraßen,
erlebte ich die Tage noch in Ruhe.


Diese Version wäre sonetttechnisch korrekt. Allerdings erscheint eine der Aussagen noch wirr. Was ist mit S2Z4 gemeint: "Vereinzelt stehen Glieder in den Reihen." Ich finde kein Bild dazu und keinen Bezug zum Rest des Textes. Was ist da gemeint? Welche "Glieder", welche "Reihen", welcher Sinnzusammenhang??? Ichwürde über eine Umformulierung nachdenken, denn wenn ich keinen Sinn sehe, wird es wohl auch vielen anderen Lesern so ergehen.
Alle anderen fragwürdigen Formulierungen habe ich geändert und in einen mir logisch und sinnvoll erscheinenden Kontext gesetzt. Urteile selbst, welche Versionen die gewollte Aussage deines Werkes besser tragen.

Meine Deutung (Urversion): Ein älteres LyrIch hängt der Erinnerung an frühere Tage nach, als es zwar arm war, aber das Leben soviel intensiver erschien. Dabei spricht es eine andere Person an, vielleicht eine Partnerin (S2Z2).
Ich habe mir erlaubt, daraus den "guten Geist" jener vergangenen Tage zu machen, den das LyrIch herbeizubeschwören versucht. Vielleicht war das sogar deine Intention, aber wenn du die namentliche Erwähnung schuldig bleibst, entsteht kein Bild im Kopf und kein logischer Faden.
Für eine flüssig-weiche Sprachmelodie, wie sie das Sonett haben sollte, ist auch die Wortwahl wichtig. Ein Beispiel: "mit letztem Hemd" - oder "im letzten Hemd"... urteile selbst, was sich fließender fügt.

Ich hoffe, meine Bearbeitung hilft dir weiter. :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: Juli 28, 2014, 12:31:07 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Makaveli

  • Gast
Re:Vom Regen in die Traufe
« Antwort #2 am: August 01, 2014, 01:46:18 »
Wow, einen solchen Exkurs hatte ich mir tatsächlich erhofft! Den muss ich mir allerdings nochmal in Ruhe zu Gemüte führen... Ich denke aber, das er mir in jedem Fall weiter hilft, deshalb: DANKE FÜR DEINE MÜHE!

cyparis

Re:Vom Regen in die Traufe
« Antwort #3 am: August 02, 2014, 12:23:23 »
Hi, Makaveli -


ich zerbreche mir immer noch den Kopf:

wie es dir nach wirklich stimmen mag -

wie habe ich das zu verstehen?
Ist es im Sinne von
"was dir richtig erscheinen mag"
gemeint?

Alles Übrige hat Erich Kykal sozusagen auf den Punkt gebracht. :)


Herzlichen Gruß
von
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Erich Kykal

Re:Vom Regen in die Traufe
« Antwort #4 am: August 02, 2014, 16:10:36 »
Hi, Cypi!

"dir nach" - Auch diesen Punkt habe ich deutlich angesprochen und eine sprachlich adäquatere Alternative angeboten. Siehe oben.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.