Autor Thema: Polaritäter  (Gelesen 1503 mal)

Erich Kykal

Polaritäter
« am: November 21, 2013, 16:52:24 »
Dort drüben in der wohlbekannten Seitengasse
erwarten sie die Dunkelheit und ihre Kunden,
sind junge, unverbrauchte und auch alte, blasse
Verkäufer ihrer Körper, die sich eingefunden.

Nicht einer hätte wohl als Mädchen oder Knabe
gedacht, sich später auszuliefern fremder Lust,
für Geld, Versprechungen, für eine milde Gabe
sich willig hinzugeben bis zum Selbstverlust.

Und weiter oben in der Stadt, in mancher Runde,
zersingen Gottversprochene den lieben Tag,
gemurmelt in Gewohnheit dringt aus ihrem Munde
ein stolzes Gift, das sich in Demut hüllen mag.

Nicht einer hätte wohl als Mädchen oder Knabe
gedacht, sich später auszuliefern einem Wort,
für nacktes Seelenheil und Ritualgehabe
sich abzuleugnen und zu büßen immerfort.

Wer kann schon wissen, wie die Regeln alle lauten
in diesem ewig undurchschauten, wirren Spiel?
Sind, die zu wenig oft und die zuviel vertrauten,
zuletzt nicht Reisende nach einem gleichen Ziel?
« Letzte Änderung: November 21, 2013, 17:27:16 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re:Polaritäter
« Antwort #1 am: November 22, 2013, 12:10:46 »
Das macht sehr nachdenklich.
Darüber muß ich noch grübeln.
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Daisy

Re:Polaritäter
« Antwort #2 am: November 23, 2013, 20:13:15 »
Hallo Erich,

hier geht es mir ganz so wie Cyparis, auch ich bin nachdenklich und grüble!
Wenn ich mich mit diesem Thema auseinandersetze, komme ich nie zu einem wirklich schlüssigen Ergebnis und es verursacht immer eine gewisse Ratlosigkeit.

Handwerklich einwandfrei und aus einem Guss, da gibt es auch kein Fuzerl zu beanstanden!

LG Daisy

Erich Kykal

Re:Polaritäter
« Antwort #3 am: November 24, 2013, 12:02:12 »
Hi, Cypi, Daisy!

Kein Schimmer, was euch "ratlos" macht in dieser Sache. Mit diesen Polaritäten wollte ich zeigen, wie oberflächlich Menschen andere "aburteilen". Ich habe so manche "Hure" persönlich gekannt und kann sagen: Abgesehen von ihrer Tätigkeit, die als gesellschaftlich "verwerflich" abgestempelt wird, sind es Menschen wie andere auch. Und viele sind nicht leichtfertig oder gar freiwillig dort gelandet: Elend, Verschleppung, Missbrauch, Kriminalität - es gibt viele Ursachen.
Ebenso das andere Extrem: Abgesehen von ihrer Gottfixierung, und dass sie sich in rigiden Regelwerken offenbar wohlfühlen, sind auch Gläubige bloß menschlich, pflegen ihre keinen Sünden ebenso wie andere, weil sie sie ja Sonntags beichten können und so Vergebung von außen finden für etwas, das sie sich selbst nicht vergeben wollen oder können. Ich finde so eine Lebensweise aber mindestens ebenso gesellschaftlich "ungesund" wie eine Tätigkeit als Hure! Auch hier sind es oft von außen gesteuerte Einflüsse: Indoktrination und Erziehung durch besonders eifrige Eltern, Priester, Sekten...

Die einen verkaufen ihre Körper, die anderen ihre Seelen, und ab einem bestimmten IQ aufwärts werden wohl beide nicht so recht glücklich damit sein!

Und beide hätten sich als kleine Kinder wohl nie träumen lassen, sich so zu verrennen, sich wegzuwerfen, entweder an eine geile Meute oder an ein fiktives Gedankenkonstrukt, die beide ihr Leben bestimmen, einengen und ausbeuten! Aber so sind die Menschen nun mal: Ohne ein Leid scheinen sie kein Glück definieren zu können!
Wo führt das diese Extreme letztlich hin? Zu besserem Verständnis füreinander? - Aber nicht doch! So weit denken die meisten nicht, und es ist immer leichter, auf ein Feindbild zu schimpfen, als verstehen zu wollen und Toleranz zu üben. Erst der Tod gleicht alles aus. Leider macht die nächste Generation dann bereits die gleichen Fehler - so wie sie es von der alten gelernt hat! Nur das Ziel bleibt immer das gleiche: Ein Ende, dem es letztlich egal ist, woran man geglaubt und worunter man gelitten hat! - Aber selbst das ist den wenigsten klar!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

a.c.larin

Re:Polaritäter
« Antwort #4 am: November 24, 2013, 20:58:14 »
Lieber Erich,
Wie wahr, wie wahr:
Wie viel wissen wir schon über uns selbst, solange wir noch Mädchen oder Knaben sind?
Andererseits: Wie viel wissen wir über uns, nachdem das Leben aus uns gemacht hat, was es gemacht hat?

Und: Können wir vorhersehen, was unsere Entscheidungen, bzw Nicht - Entscheidungen mit uns machen
und welchen Preis wir bezahlen müssen für die Kompromisse, die wir schließen?

Hure oder Heilige, Wahnsinniger, Mörder oder Narr - es steckt alles in uns , und oft lassen die Umstände gar nicht mehr zu als das, was es dann wird.

Wie heißt das doch in der Bibel?
Der von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.

Aburteilen ist leicht - verstehen lernen, darin liegt die Kunst.

Gerne gelesen, larin




Erich Kykal

Re:Polaritäter
« Antwort #5 am: November 26, 2013, 13:38:42 »
Hi, larin!

Vielen Dank für deine treffenden Gedanken - du hast das Wesentliche erfasst!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Mandeltraum

Re:Polaritäter
« Antwort #6 am: Dezember 01, 2013, 16:29:37 »
Hallo Erich!

Ein sehr gelungener Text! Was besonders erfreulich ist,
er schwächelt auch in der letzten Strophe nicht,
ganz im Gegenteil.

Auch der Titel hat ein - allerdings leicht zu übersehendes
besonderes Gewicht.

LG
Mandeltraum
« Letzte Änderung: Dezember 01, 2013, 16:31:19 von Mandeltraum »

Erich Kykal

Re:Polaritäter
« Antwort #7 am: Dezember 01, 2013, 16:35:32 »
Hi, Mandeltraum!

Vielen Dank für den freundlichen Zuspruch!

Titel sind - gerade bei Gedichten - nicht immer leicht zu finden. Einerseits sollen sie der Wortkunst, die sie betiteln, entsprechen, andererseits dem Inhalt angemessen sein, ohne allzu viel davon preiszugeben, um Spannung und Erwartung aufzubauen. Ein Eiertanz!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.