Autor Thema: Tage im Spätherbst  (Gelesen 1295 mal)

Erich Kykal

Tage im Spätherbst
« am: Oktober 24, 2021, 11:36:14 »
Die Bäume kahlen nun und werden astig
im Akte der Entkleidung, den sie zeigen.
Der Herbst geht fortgeschritten, vorderlastig
dem Ende zu, dem sich die Gräser neigen.

Ein erster Frost hat schon das Grün gebrochen,
das ungesund erbleichend sich noch breitet,
doch tödlich schon verwundet über Wochen
dem Tod verfällt, der durch die Tage schreitet.

Nach Erde und Verwesung riecht die Feuchte,
die aus den leichenblassen Böden nebelt,
und lichte Sonne wird zur kühlen Leuchte,
die eher hilflos an den Schatten hebelt.

Ein kalter Wind fährt in die Totlaubhaufen
und will sie immer anders arrangieren.
Die Augen tränen und die Nasen laufen,
als wäre bald ein erster Schnee zu spüren.

Das Land wird nackt, als wolle es erfrieren
mit allem, was sich noch lebendig findet,
als müsse alle Freude sich verlieren
im Ruf des Winters, der sie unterbindet.
« Letzte Änderung: Januar 25, 2022, 18:23:40 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Tage im Spätherbst
« Antwort #1 am: Oktober 24, 2021, 18:32:37 »
Lieber Erich,

deine Verse über das herbstliche Abdanken des Lebens sind voll schöner Bilder, manche besonders originell wie "vorderlastig", "an Schatten hebelt", Totlaubhaufen". Auch die spielerische Umgestaltung, die der Wind an den Laubhaufen vornimmt, wird durch "arrangiert" sehr plastisch.

Mit Genuss gelesen .

Grüße von gummibaum

Erich Kykal

Re: Tage im Spätherbst
« Antwort #2 am: Oktober 25, 2021, 11:02:37 »
Hi Gum!

du kennst ja die unumstößliche Dichteregel: Kein Herbst ohne mindestens 2-3 Herbstgedichte! Sie dürfen auch mal heiter bis besinnlich sein, aber melanchloisch wird eindeutig bevorzugt ...  ;)

Interessanter Selbstversuch: Wie viele Werke kann man schaffen, wie viele Bilder und Phrasen kann man fügen, ohne sich nach Jahren an dieser Thematik irgendwann doch zu wiederholen, verbal wie inhaltlich (wobei letzteres viel eher passiert ...)?

Vielen Dank für die positive Würdigung meiner bescheidenen Kunst!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Rocco

Re: Tage im Spätherbst
« Antwort #3 am: Oktober 28, 2021, 22:49:50 »
Hallo Erich,

die Sprache erinnert mich an Gedichte des Expressionismus. Etwa: die Bäume kahlen...

Es endet aber anders: Als müsse Freude sich verlieren...

Nein, muss sie nicht. Man kann immer noch darüber schreiben. Auch das ist Leben. Und wo Leben ist, ist...

Einen schönen Abend

Rocco
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Erich Kykal

Re: Tage im Spätherbst
« Antwort #4 am: Oktober 28, 2021, 23:35:28 »
Hi Roc!

Wer waren die gängigen Dichter des Expressionismus? Meintest du nur die Dichter, die während dieser Epoche der Malerei akriv waren, oder gibt es in der Lyrik dafür eine eigene unverwechselbare Ausprägung?

Wenn ja, ist mir davon nichts bekannt.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Rocco

Re: Tage im Spätherbst
« Antwort #5 am: Oktober 29, 2021, 01:22:19 »
Hallo Erich,

ich meinte die Lyriker. Etwa August Stramm oder Georg Heym. Sie haben Bilder aneinander gereiht und eine eigentümliche Sprache entwickelt. Vor allem Wortneuschöpfungen. Lies mal bitte August Stramm mit seiner Patrouille. Oder Heym: Der Krieg.

Tod, Elend, Verwesung... sind keine wirklich neuen Themen.

Einen schönen Abend

Rocco

"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Erich Kykal

Re: Tage im Spätherbst
« Antwort #6 am: Oktober 29, 2021, 10:11:42 »
Hi Roc!

Habe beide Werke gelesen. Über Stramms "moderne" Lyrik breite ich lieber den Mantel gnädigen Schweigens, ich kann sie weder als ergreifend noch als überhaupt lyrisch nach meiner persönlichen Definition des Begriffes empfinden. Ich wüsste nichts Positives dazu zu sagen.

Heym schreibt eindeutig mehr nach meinem Geschmack, aber auch er macht unnötige Fehler wie unschöne Verkürzungen und unmelodische Phrasierung - an manchen Stellen holpert es doch ziemlich auf der Zunge. Manche Formulierungen wirken auch ziemlich geschraubt, wie gezwungen, der Sprache abgerungen.

Vielleicht nach dem Geschmack der Epoche, aber heute hört sich da manches ein wenig unnatürlich an - finde ich zumindest. Andere Strophen wiederum sind wirklich großes Tennis - aber was hilft's wenn der Gesamteindruck durch die genannten Schwächen leidet. Ich glaube an dies: Eine einzige, nur eine einzige für den Leser erkennbar miese Stelle macht aus einem ansonsten erstklassigen Gedicht bereits ein durchschnittliches, denn was der Leser dann vor allem davon behält, ist diese eine Stelle, an der er gestolpert ist, die ihn gegen den lyrischen Strich gebürstet und aus dem Takt geworfen hat - nicht mehr primär der Inhalt oder all die anderen wie immer auch noch so toll formulierten Bilder.

Ist mir leider zu oft passiert - sogar mit Gedichten von Rilke! Zum Beispiel hier eins meiner Lieblinge:

DER PANTHER

IM JARDIN DES PLANTES, PARIS

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.


Was mich hier seit der Erstlektüre immer wieder anranzt und unangenehm berührt, ist diese vermaledeite Wortwiederholung von "geht" in der letzten Strophe - ein leicht vermeidbarer kleiner Lapsus, vom Autor vielleicht sogar bewusst als Stilelement gesetzt - aber von mir als Mangel empfunden.
Jedesmal versaut mir diese Stelle den Genuss des ansonsten genialen Gedichts!

Es wäre so leicht vermeidbar gewesen: "Dann dringt - oder fällt - ein Bild hinein", oder "dann sinkt - oder schleicht - ein Bild hinein", oder "durchmisst der Glieder angespannte Stille -", oder "berührt der Glieder angespannte Stille -"
(die letzteren beiden Alternativen würden auch einen eindeutig unbetonten Auftakt der Zeile garantieren - bei Rilke's "geht durch" ist dieser ein wenig bemüht, denn eigentlich will das "geht" betont sein.)

Meine Lieblingsalternative habe ich unterstrichen. Soll ich dir was sagen? - In meinem persönlichen Rilkeband habe ich die Stelle so ausgebessert! (und noch ein paar andere bei anderen Gedichten ...) Nicht aus Arroganz, oder weil ich glaube, es besser zu können - nein, um das Werk zu perfektionieren. Es geht mir immer um das Werk selbst, um die Sprache.

Nun, vielleicht haben andere da ein weniger empfindliches lyrisches Ohr, oder einfach bloß weniger Macke. Aber mir tun solche Stellen fast körperlich weh ...

LG, eKy
« Letzte Änderung: Januar 25, 2022, 18:26:21 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Rocco

Re: Tage im Spätherbst
« Antwort #7 am: Oktober 29, 2021, 12:50:52 »
Hallo Erich,

dass du einen eigenen Geschmack hast und dazu stehst, ehrt dich.

Was soll ich zu deinen Einschätzungen sagen? Sagen wir so: Was bitte ist denn "lyrisch"?

Stramm hat Gefühle, Ängste, Sorgen und Nöte von Soldaten zu Papier gebracht. Hätte er das mit hübschen Versen machen sollen?

Und Heym, er hat Wahnsinn und Verfall dargestellt. Ich frage mich, wie er das anders hätte tun sollen? Eine Sprache sollte dem Inhalt angemessen sein, oder?

Aber du hast Recht, so groß ist mein Sprachempfinden nicht, du siehst tiefer.

Einen schönen Tag

Rocco
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Erich Kykal

Re: Tage im Spätherbst
« Antwort #8 am: Oktober 29, 2021, 17:43:42 »
Was bitte ist denn "lyrisch"?


Hi Roc!

Interessante Frage. Natürlich hast du Recht, die Antwort lautet für fast jeden ein wenig anders. Für mich heißt das:
"Lyrisch" ist entweder gut Gereimtes in metrisch korrekter Struktur, oder, wenn schon "modern", dann sollte der Text mich doch immerhin zu ergreifen wissen, emotional zu berühren. Sechs Zeilen mit durchschnttllich kaum mehr als 3 Wörtern pro Zeile, die mehr eine Aufzählung sind als überhaupt ein Satz, vermögen dies nun mal nicht, egal wie tragisch die Aussage.

Mit dem "Schtzngrmm" von Jandl geht es mir ähnlich: Intellektuell begreife ich seine Intention, kann sie sogar wüdigen als interessantes Sprachexperiment in Sachen Onomatopoesie, aber diese Art der Umsetzung hinterlässt mich emotional völlig unberührt - ist leider so bei mir. Mein Herz berühren nur schöne Sprache und harmonischer Sprachklang in akzelerierter Satzführung.

Mit der bildenden Kunst ist es ähnlich: Naturalisitsche Landschaftsbilder oder Gemälde mit sozialkritischem Ansatz berühren mich. Abstrakte Kunst der Moderne kann ich interessant finden, sogar gelungen, und ich schätze manche ihrer Vertreter sehr (hab mir sogar was von Hundertwasser ins Haus gehängt) - aber auf rein geistiger Ebene. Diese Bilder lösen kein intensives Gefühl bei mir aus. Deshalb wirst du bei meinen Bildersonetten ("Lieblingsbilderzyklus"(oder "Seltsame Sonette") und "Lautere Lyrik") kein einziges verdichtetes abstraktes Werk finden.

Ich hoffe, das beantwortet deine Frage.  :-\

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
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