Autor Thema: Zweifel  (Gelesen 1552 mal)

Daisy

Zweifel
« am: November 15, 2013, 21:46:55 »
Der Abend bricht herein, die Welt wird grauer,
und stumme Schatten stehn wie eine Mauer,
die drohend nah an meine Seele drängt.
Dämonen gieren, liegen auf der Lauer,

Konturen werden blasser, ungenauer,
verändern ihr Gesicht, wenn leise Trauer
sich langsam um mein Fühlen hängt
und letztlich über allen Dingen thront.

In Gräbern ruhen fromme Lebenslügen
und von Enttäuschung blieb ich nicht verschont.
Kann denn das Wenige, das war, genügen?
Hat sich der Weg für mich gelohnt?

Erich Kykal

Re:Zweifel
« Antwort #1 am: November 15, 2013, 22:12:20 »
Hi, Daisy!

Ein sprachlich wunderbar geschnitztes, intensiv authentisch sich anfühlendes Lebensresumeé! Düster und berückend schilderst du die Angst davor, etwas verpasst, Wichtiges versäumt zu haben vor dem Angesicht der eigenen Endlichkeit. Zuletzt kein versöhnlicher Ausklang, nur eine bange ins Nichts gestelle Frage, wie ein Zittern vor der Unausweichlichkeit der drohenden Schatten, die all die Versäumnisse werfen. Sehr aufwühlend!

Interessantes Reimschema: AABA AABC DCDC Insgesamt fünfmal A, dreimal C, je zweimal B und D, aber ohne feste, gleichmäßige Abfolge. Dennoch ist das Ergebnis ein lautmalerisch perfektes Ganzes, harmonisch und dynamisch zugleich. Chapeau!

Kleinigkeit: Zwei Zeilen haben bloß 4 Heber anstatt der üblichen 5:

S2Z3 - Korrektur: "sich tödlich langsam um mein Fühlen hängt," (Auch würde ich hier am Zeilenende ein Komma setzen)

S3Z4 - Korrektur: "Hat sich der weite Weg für mich gelohnt?" (Oder: Der "krumme" Weg, der "karge", "schmale", ...)

Sehr gern gelesen und bearbeitet! Sollte das LyrIch hier mit dem Autor direkt zu tun haben: Kopf hoch - keine Lektion ist vergebens! Stellten wir uns nicht ständig derlei Fragen, wie sehr könnten wir sicher sein, nicht allzu "sicher" gewesen zu sein, was die Entscheidungen des Lebens betrifft!? Auch wenn manche Entscheidungen vielleicht falsch waren - sie wurden getroffen und damit zu einem Teil unseres Daseins und Werdens. Müßig zu überlegen, wer wir geworden wären, hätten wir anders entschieden! Das ist nur relativiertes Wunschdenken, ein erträumtes Paradies, eine Ausflucht. Wir müssen mit dem, was wir lebten, zurechtkommen, um weiter leben zu können! Und ich denke mal, diese Aussicht ist diese Mühe wert! ;) :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

galapapa

Re:Zweifel
« Antwort #2 am: November 16, 2013, 12:25:21 »
Liebe Daisy,
wieder ein großartiges Gedicht aus Deiner Feder; auch ich ziehe meinen Hut!
Angesichts des hereinbrechenden Abends ein Blick zurück auf ein Leben mit Lügen und Enttäuschungen, auf eine lange Strecke scheinbar vergeudeter Lebenszeit.
Doch je mehr von dieser Zeit vergangen ist, desto wertvoller wird jede Sekunde der noch verbleibenden!
Auch kann man dem lyrischen Ich sagen, dass vermutlich nichts so schlecht war, als dass es nicht letztlich doch für irgendetwas gut gewesen ist. Wohl ein schwacher Trost, aber auch ein Grund, nicht weiter nach hinten zu schauen, sondern nach vorne und alle Rosen auf dem verbleibenden Weg zu pflücken. Je mehr man davon mitnimmt, desto länger wird diese wertvolle Zeit.
Die beiden Verse mit einer Hebung weniger hätte ich ohne Zählen gar nicht bemerkt; auch meine ich, dass man bei Gedichten im letzten Vers mehr Freiheiten hat.
Ohne Erich auf die Zehen treten zu wollen, würde ich das "tödlich" hier als unpassend bezeichnen und stattdessen, wenn aufgefüllt werden soll, freudlos, schmerzlich, bitter oder drückend vorschlagen.
Im zweiten Fall, S3V4, erscheint mir auch der schwere, harte, herbe oder bittre Weg angebrachter, wenn überhaupt.
Zusammenfassend kann ich zur Form sagen, dass das auflockernde Element der Reimfolge ohne feste Regel und die dem Gefühl angepasste Hebungszahl diesem Gedicht eine angenehme Note verleiht, die auch in der ehrlichen und eher nüchternen Betrachtungsweise zum Ausdruck kommt.
Ganz großes Lob von mir!
Liebe Grüße!
Galapapa

Daisy

Re:Zweifel
« Antwort #3 am: November 16, 2013, 15:43:12 »
Lieber Erich, lieber Galapapa,

für eure ausführlichen und anerkennenden Kommentare bin ich sehr dankbar und es freut mich natürlich sehr,
dass euch mein Gedicht die Mühe wert war, sich damit so eingehend zu befassen!
Vielen Dank für die schönen, lobenden Anmerkungen!

Weiters möchte ich darauf eingehen, wodurch und wie es zu diesem Gedicht gekommen ist.  :)

Da du, Erich, stets empfiehlst die Gedichte des genialen Rainer Maria Rilke zu lesen, mache ich das mittlerweile
einigermaßen regelmäßig. Bei diesen Gelegenheiten stoße ich nun immer wieder auf ausgefallene Reimschemata,
die ich sehr ansprechend finde und benutze sie quasi als Lehrstoff. Ich orientiere mich an den Reimwörtern, notiere
alle Möglichkeiten, die mir dazu einfallen und mache mich daran aus diesen Vorgaben ein eigenes Gedicht zu erstellen.
Ich hoffe nur, dass diese Vorgehensweise legal ist und ich kann versichern, dass ich meine Texte ganz allein erarbeite.
Das ist natürlich nur einer der vielen unterschiedlichen Anstöße, die ich als Inspirationsquelle für meine Schreiberei nütze.

Um das noch besser zu verdeutlichen möchte ich hier noch das Gedicht von Rilke einstellen, das der Anstoß zu meinem war.
Ich habe mich jedoch für den unbetonten Zeilenanfang entschieden, aber die beiden Zeilen mit jeweils nur 4 Hebern, habe ich
übernommen, die sind also nicht aus Unachtsamkeit entstanden sondern ganz bewusst eingesetzt!  ;)

Städtische Sommernacht
von Rainer Maria Rilke

Unten macht sich aller Abend grauer,
und das ist schon Nacht, was da als lauer
Lappen sich um die Laternen hängt.
Aber höher, plötzlich ungenauer,

wird die leere leichte Feuermauer
eines Hinterhauses in die Schauer
einer Nacht hinaufgedrängt,
welche Vollmond hat und nichts als Mond.

Und dann gleitet oben eine Weite
weiter, welche heil ist und geschont,
und die Fenster an der ganzen Seite
werden weiß und unbewohnt.


Ich hoffe ich konnte veranschaulichen, wie dieses Gedicht zustande kam und natürlich sind hier meine ganz persönlichen
Empfindungen mit eingeflossen und zum Tragen gekommen!

Es grüßt euch beide ganz herzlich
Daisy

cyparis

Re:Zweifel
« Antwort #4 am: November 16, 2013, 19:24:45 »
Liebe Daisy -

Dein Können macht mich in meiner Bewunderung ganz klein, aber glücklich.
Was wie fast hingeworfen klingt, als sei es gerade einmal so aus dem Ärmel geschüttelt, ist Wort für Wort wohldurchdacht und meisterhaft gestaltet.

Was soll ich noch groß anmerken, wenn die Meister sich so ausführlich damit beschäftigt haben?
Daß ich mich ungemein freue, eine solche Perle den andern hinzufügen zu können!


Hab Dank
von
Cyparis!
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Daisy

Re:Zweifel
« Antwort #5 am: November 16, 2013, 19:56:35 »
Liebe Cyparis,

die Freude ist ganz auf meiner Seite,
denn ohne dein Zutun hätte sich mein Interesse für die Lyrik nicht so entfaltet!

Dein Anteil an dieser Entwicklung ist nicht zu leugnen und dafür danke ich dir von ganzem Herzen!  :-*

Vielen Dank auch für die lobende Anerkennung meines Gedichtes.

Liebste Grüße von
Daisy

Erich Kykal

Re:Zweifel
« Antwort #6 am: November 16, 2013, 20:27:58 »
Hi, Daisy!

Dass ich das nicht bemerkt habe... ;D

Rilke war ein intuitiver Reimer, von einem Schema kann man daher in vielen seiner Gedichte gar nicht sprechen, so auch hier. Er war ganz Sprachmelodie und Dynamik beim Dichten. Natürlich folgen viele seiner Werke auch den gängigen Regeln, aber er hat sich nie darauf versteift.
Seiner einzigartigen Sprachmelodie ist es auch zu danken, dass seine Hebungszahlwechsel entweder gar nicht auffallen oder sich so perfekt in den Sprachrhythmus schmiegen, dass sie die Sprachdynamik sogar befördern, anstatt sie zu hemmen.
Ein weiterer wesentlicher Unterschied ist, dass Rilke in diesem Gedicht die Zeilen betont beginnt, du aber unbetont. Das hat eine ganz andere Dynamik zur Folge, in der die zu kurzen Zeilen wesentlich auffälliger wirken, weil kein so starker Fluss entsteht wie beim Original.
Zuletzt liegt es daran, dass Rilke keine Worte für eine so oder so lange Zeile suchte, sondern die Zeilen seinen Worten anpasste, und seine Worte sind eben magisch in ihrer Musikalität, ihrer hypnotischen, unglaublich harmonischen Klangfolge. Unser Schreiben klingt dagegen immer vergleichsweise hart und kantig! Seine Zeilenlängen betonen, untersteichen die Struktur seiner fließenden Sätze, die sich immer richtig anhören, auch wenn man beim Nachzählen erkennt, dass sie keinem hundertprozentigen Regelmaß folgen. Das ist eben wahre Sprachmagie!

All das soll deine lyrische Leistung nicht herabwürdigen - ich bleibe bei meiner obigen Aussage. Aber Rilke ist und bleibt eben die ewige Oberliga - auch ich bin ihm trotz langen Bemühens nicht wirklich nahe gekommen! (Was mich nie davon abgehalten hat, es immer wieder zu versuchen! Also - nur weiter so! ;))

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Daisy

Re:Zweifel
« Antwort #7 am: November 18, 2013, 20:01:59 »
Hallo Erich,

natürlich mache ich so weiter!

Allerdings beabsichtige ich gar nicht ein Rilke zu werden, ich bin und bleib nun mal ein Gänseblümchen;) :D

LG Daisy