Autor Thema: Andere Zeiten  (Gelesen 934 mal)

Seeräuber-Jenny

Andere Zeiten
« am: Mai 18, 2013, 17:25:25 »
Wenn ich heut durch mein Viertel geh,
dann tun mir meine Augen weh.
Ich laufe kreuz und laufe quer
und ich erkenne es nicht mehr.

Die Kirche von Gethsemane
verdeckt ein Wohnhaus weiß wie Schnee.
Die Nachbarn aus dem Schwabenland
sind gut betucht und unbekannt.

Verboten ist die Live-Musik,
am Kollwitzplatz herrscht Spätzle-Krieg,
ein freches Gör brüllt wie am Spieß,
dem man nicht seinen Willen ließ.

Das Schliemann ist schon lange zu,
die Herbstlaube hat auch bald Ruh.
Kein alter Opa singt voll Hohn
ein Spottlied zum Akkordeon.

Kein Dichter mehr, der subversiv
dereinst zum Klassenkampf aufrief,
kein Hausbesetzer macht Rabatz,
kein Trinker sitzt am Helmholtzplatz.

Kein Einsatz für die Feuerwehr,
auch kein Fabrikarbeiterheer.
Das große Gähnen macht sich breit
in dieser schönen neuen Zeit.
« Letzte Änderung: Mai 21, 2013, 22:49:23 von Seeräuber-Jenny »
Ideale sind wie Sterne. Wir erreichen sie niemals, aber wie die
Seefahrer auf dem Meer richten wir unseren Kurs nach ihnen.
Carl Schurz

cyparis

Re:Andere Zeiten
« Antwort #1 am: Mai 18, 2013, 18:43:06 »
Aldous Huxley läßt grüßen!

Der Hintergrund ist grausig, wenn er auch "sozial-politisch" heruntergespielt wird.
(Nicht von Dir!)


Es holpert genauso wie im richtigen Leben!
Du führst immer stracks in die eklige Realität.

Deprimiert:
Cyparis


Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Seeräuber-Jenny

Re:Andere Zeiten
« Antwort #2 am: Mai 21, 2013, 22:25:11 »
Liebe cyparis,

wohl wahr. Eine glatt gebügelte schöne neue Welt. Das bunte alternative Leben von früher ist dahin. Die letzten Dichter fristen in der Rumbalotte ein Schattendasein. Dafür erstrahlen Einkaufszentrum und Town Houses im Scheinwerferlicht. Grausig.

Meines Erachtens holpert es mit der Betonung nur an einer Stelle: Herbstlaube. Es war mir aber wichtig, sie zu erwähnen. Ist sie doch das letzte soziale Projekt, das noch vom Quartiersmanagement übrig geblieben ist. Ein Refugium für die letzten alten Leute in unserem Viertel. Doch nunmehr ist die Förderung ausgelaufen und die Senioren müssen raus, weil sie die hohen Mieten für Herbstlaube und Museum nicht aufbringen können und weil der Investor Eigentumswohnraum schaffen will.

http://www.change.org/de/Petitionen/bezirksb%C3%BCrgermeister-m-k%C3%B6hne-bezirksverordnetenvorsteherin-s-r%C3%B6hrbein-herbstlaube-und-brunzel-museum-m%C3%BCssen-bleiben

Vielleicht empfindest du die Sprache auch als holprig, weil ich viele Konsonanten verwende.

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny
Ideale sind wie Sterne. Wir erreichen sie niemals, aber wie die
Seefahrer auf dem Meer richten wir unseren Kurs nach ihnen.
Carl Schurz