Autor Thema: Vom Seelenschmerz  (Gelesen 1293 mal)

gummibaum

Vom Seelenschmerz
« am: August 23, 2023, 20:15:49 »
Wo ist der Schmerz der vielen Jahre,
den ich stets weggewünscht, geblieben?
Das Alter hat ihn wohl vertrieben:
Der Schnitt vernarbt, es wuchern Haare.

Nun fehlt er mir an manchen Tagen.
Ist mir auch ohne Wunde leichter,
so fühle ich doch heute seichter
und weiß nichts Tiefes mehr zu sagen.

Wie amputiert von meiner Wunde,
fehlt mir der Kompass auf der Suche
nach Linderndem, und  ich verfluche
ans Wohl gefesselt das Gesunde.

Es gleicht der Mensch wohl der Chimäre,
wo Wohl und Wehe sich bekämpfen.
Und hilft das Altern, Weh zu dämpfen,     
fasst nun der Geist ins Ungefähre …
« Letzte Änderung: August 24, 2023, 05:58:38 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Vom Seelenschmerz
« Antwort #1 am: August 24, 2023, 08:15:38 »
Hi Gum!

Du vertiefst da auf deine unnachahmlich lyrische Weise ein Thema, das vielleicht mehr ältere Menschen betrifft als gedacht. Mir zumindest ergeht es ebenso. Mit dem Nachlassen des hormonellen Drucks, des damit verbundenen Ehrgeizes und der Getriebenheit von Charakter und Libido relativieren sich irgendwann die Lebensprämissen, und man definiert Ziele neu oder streicht sie endgültig. Die Summe der Lebenserfahrung tut schließlich ein Übriges, um so manche Tür endlich zu schließen, die ständig in uns für kalten Durchzug gesorgt hat.
Die alten Wunden heilen endlich oder wachsen einfach zu, überlagert von neuen Schichten Persönlichkeit und Erinnerungen. Sie bleiben präsent, um zu formen, was und wer wir sind, aber sie tun nicht mehr so weh wie einst, als man Diverses noch anders sah oder wichtig nahm. Das führt, mit der Abgeklärtheit des Alters, die für weniger 'Action' sorgt, biswelen zu dem Gefühl, nichts Neues finden zu können, mit dem man sein Leben wertig füllen könnte, in seiner Intensität vergleichbar dem Erinnerten aus früheren Jahren, vor allem der Jugendzeit, als wir uns an der Welt formten.
Das führt dann zu diesem Gefühl der inneren Leere, die einen den Schmerz alter Wunden vermissen lässt, da dieser es war, der uns das Gefühl gab, am Leben zu sein, tief genug, dass wir uns spürten.

Wenn ich ehrlich bin, muss ich gestehen, dass ich meistens sogar erleichtert bin, dass mein Lebensdruck nachgelassen hat, ich kein Getriebener mehr bin, und dass manche ungelebten Erinnerungen ausdünnen und verblassen. Auf der anderen Seite erkenne ich erst jetzt dank jahrzehntelanger Gewissensschulung, was ich zuweilen für ein Arschloch gewesen bin, ohne es zu merken oder wahrhaben zu wollen, und das generiert neuen Schmerz, der mich definiert. Aber diesen Prozess erlebt ein jeder anders.

Sehr gern gelesen!  :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: August 26, 2023, 09:52:37 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Vom Seelenschmerz
« Antwort #2 am: August 24, 2023, 16:12:06 »
Danke, lieber Erich,

für deinen tollen Kommentar, der mir zeigt, dass nicht mir so geht und dass du mich gut verstanden hast. Mein Sensorium war als Leidender feiner. Und weil die Gefühle stärker waren, war das Leben intensiver und tiefer, und ich fand leichter die richtigen und betroffen machenden Worte dafür.

Dein Kommentar macht die Faktoren, die Jung und Alt und den Wandel bedingen und charakterisieren, gut klar.

Liebe Grüße von gummibaum 
« Letzte Änderung: August 26, 2023, 14:21:56 von gummibaum »

Sufnus

Re: Vom Seelenschmerz
« Antwort #3 am: August 29, 2023, 18:01:26 »
Hi gum!
Diese weise-melancholisch-nachdenklich-abgeklärten Zeilen gefallen mir wirklich sehr und eKys Erklärung hat sie schön ausgeleuchtet!
Sicherlich könnte man nun auch Tröstliches Einwenden, dass dem von Dir verfluchten Zustand womöglich auch einiges sehr Positives abgewönne, aber das hieße vorschnell Deine Unzufriedenheit mit wohlfeilen Parolen zuzukleistern. Da bleib ich lieber bei Deinem klugen Gedicht ein wenig sitzen und genieße den Wort- und Gedankenwohlklang, selbst wenn er beklagender (beinahe: anklagender) Natur ist.
LG!
S.

gummibaum

Re: Vom Seelenschmerz
« Antwort #4 am: August 31, 2023, 07:19:52 »
Hab Dank, lieber Sufnus,

für deinen schönen Kommentar, der die Stimmung des Gedichts gut zum Ausdruck bringt.

LG g

a.c.larin

Re: Vom Seelenschmerz
« Antwort #5 am: November 19, 2023, 19:52:10 »
Hi gum,
 es ist wohl so wie mit der Muschel und der Perle: Fällt Mist in die Muschel macht sie Perlmutt drumrum. Uns gefällt die schöne Perle - für die Muschel wars aber ein heftiger Kampf!

So ists wohl auch mit dem Leiden: Es schärft den Sinn und generiert auch "tiefere", "schönere" Kunst.
Die Kunst gefällt uns -den Preis wollen wir lieber nicht zahlen.
Doch wir zahlen IMMER einen Preis: Der Preis für das allzu Leichte ist die Belanglosigkeit und die Langeweile!

Fazit: Man will immer das Andere, das Fehlende.

Die 2 Seelen, die - ach - in unserer Brust wohnen - sind die lästigen Wegbegleiter der Lebenden...

Lg, larin