Autor Thema: Exil (Märchenwald)  (Gelesen 1393 mal)

Sufnus

Exil (Märchenwald)
« am: Juli 27, 2023, 13:04:46 »
Exil (Märchenwald)

Die Sonne wirft viel Schatten
auf unsre Morgenstund:
Dass wir selband' ermatten,
stellt sie uns herzgesund.

Mein Leib und Deine Sorgen,
die gehen uns nichts an.
Im Zwieglücksspiel verborgen
als tief im dunklen Tann

der Märchenwälder Lügen,
da stehen wir im Wort,
uns aus der Welt zu fügen
zum Siebenwünscheort.

So schließt bald unverdorben
des Märchens letzt' Gebot:
Sind sie denn nicht gestorben
so manchen kleinen Tod.



« Letzte Änderung: Juli 27, 2023, 15:01:52 von Sufnus »

Copper

Re: Exil (Märchenwald)
« Antwort #1 am: Juli 27, 2023, 18:57:58 »
Hallo Sufnus,

es liest sich schön, doch für mich, in der Aussage auch etwas unverständlich.
Du musst es mir auch nicht gleich erklären. Du möchtest bestimmt noch andere Reaktionen abwarten.

Das Wort selband ist mir völlig unbekannt. Ich könnte nun googeln, mach ich aber nicht.
Ein Gedicht sollte dem Leser niemals dazu zwingen.

folgendes gefällt mir sehr gut:

Mein Leib und Deine Sorgen,
die gehen uns nichts an.

Beschreibt dieses Gedicht vielleicht doch eine Beziehung, die auf Lügen aufgebaut ist ?

Ein Gedicht, das durch seine Unverständlichkeit, Wortschöpfungen und anspruchsvollen Passagen doch irgendwie fesselt.

Gruß, Copper



Erich Kykal

Re: Exil (Märchenwald)
« Antwort #2 am: Juli 27, 2023, 19:51:57 »
Exil (Märchenwald)

Die Sonne wirft viel Schatten
auf unsre Morgenstund:
Dass wir selband' ermatten,
stellt sie uns herzgesund.

Mein Leib und Deine Sorgen,
die gehen uns nichts an.
Im Zwieglücksspiel verborgen
als tief im dunklen Tann

der Märchenwälder Lügen,
da stehen wir im Wort,
uns aus der Welt zu fügen
zum Siebenwünscheort.

So schließt bald unverdorben
des Märchens letzt' Gebot:
Sind sie denn nicht gestorben
so manchen kleinen Tod.


Hi Suf!
Wieder höchst amüsante und ganglienkitzelnde Neologismen, und dazu der Verwendung höchsten alten sprachguts wie zB. 'selband' Das 'Stricherl' danach halte ich für überflüssig nach NR (ebenso wie bei 'letzt')

Frage: Geht es bei 'Zwieglücksspiel' um doppeltes Herzensglück - oder ein Glücksspiel wie Roulette? Bei ersterer Auslegung wäre nämlich dann ein 's' zu streichen: Das Spiel zu beiderseitgem Glück ist nämlich ein 'Zwieglückspiel', während eine Pokerrunde zu zweit ein Zwieglücksspiel wäre ...  ;)

Das 'als' eingangs S2Z4 erklärt sich mir nicht ganz, es scheint da nicht hinzupassen, stellt man die gesamte Satzkonstrukzion in Rechnung. Bei als erwartet man einen Komparativ in der Vorzeile. 'so' klingt da für mich besser.

die Verkürzung 'letzt'' gefällt mir nicht, sie wirkt aufgesetzt und gekünstelt. Wie wäre es stattdessen mit 'Aufgebot'?

In der letzten Zeile fehlt nach meinem Dafürhalten ein 'sie', aber selbst damit wirkt das Konstrukt ohne indirekten Artikel zum kleinen Tod unvollständig. Besser: Komma am Ende der Vorzeile, und: 'so doch im kleinen Tod.'


Sehr gern gellesen und beklugscheißert!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Exil (Märchenwald)
« Antwort #3 am: Juli 30, 2023, 15:35:36 »
Die Waldestiefe birgt neben Gefahren von je her einen Zauber. Hier spielen die Märchen und geschehen die Wunder. So kann sie der Schutzraum der Liebenden vor der realen Welt sein, ihre Seelen behüten, durchwachsen und verflechten.

Oder die Seelen machen es umgekehrt und lassen in ihrer Verflochtenheit Märchen und Waldestiefe entstehen.
 
Dies ist hier wohl der Fall. Die Umkehrung der Märchenschlussformel („Und wenn sie nicht gestorben sind…“) in der letzten letzten Strophe spricht dafür. Nicht nur wird der Konjunktiv zum Indikativ, sondern auch der Tod zu vielen gemeinsamen keinen Toden (Orgasmen), vom Tiefpunkt also zum Höhepunkt, zum Auftakt für ein erfrischtes Weiterleben.

Sehr gern gelesen, lieber Sufnus.
LG g

Sufnus

Re: Exil (Märchenwald)
« Antwort #4 am: Juli 30, 2023, 16:01:18 »
Hi Copper & eKy & gum!

Lieben Dank für Eure Kommentare, Anmerkungen und Rückfragen! Und natürlich auch fürs Gefallenfinden! :)

Zu Deinem Kommentar, lieber Copper, dass dieses Gedicht sich etwas gegen eingängige Verständlichkeit sperrt: Damit hast Du ganz ohne Zweifel recht und ich schreibe ja tatsächlich auch desöfteren Texte, die sich durch die ein oder andere Eigenheit mehr oder weniger der leichten Verständlichkeit entziehen. Manche meiner Texte verweigern sich der Logik und dem Verständnis soweit, dass sie geradezu hermetisch rüberkommen, andere balancieren eher an der Schwelle zwischen Klarheit und Nicht-ganz-so-Klarheit ;) - dieser Text gehört, würde ich sagen zur letzteren Sorte. Dabei sind die Verständnishürden teiweise im Sprachlichen zu verorten, Du hast ja darauf hingewiesen, Copper, indem hier doch einige etwas ungebräuchliche Wörter Verwendung finden und auch die Grammatik ein wenig... naja... gedehnt wird. Außerdem gibt sich aber auch der Inhalt etwas geheimnisvoll, denn es wird nicht geade viel Kontext geliefert, so dass dem Leser etwas anheimgestellt bleibt, wen er sich hier unter dem lyrischen Ich und dem lyrische Du vorzustellen hat und ob hier eigentlich etwas märchenhaft Schönes und Positives oder doch eher etwas Dunkles und Bedrängendes besungen wird. Das letzte Wort im Gedicht lautet Tod... das ist ja nicht so schön... aber dann ist es wiederum nur ein "kleiner Tod", die Umschreibung für den Orgasmus... gum hat ganz genau richtig darauf hingewiesen. Also ein "verschweintes" Gedicht? Es wird nicht so richtig aufgelöst und das ist hier tatsächlich genau das Programm, weshalb ich hier auch keine allgemeingültige Musterinterpretation anbieten kann. Aber ich würde zumindest soweit gehen, dass es sich hier im weitesten Sinne um ein Liebesgedicht handelt, wobei die Liebe, wie es nun mal hienieden so geht, nicht ohne Anfechtung ist, was erklärt, warum auch von Schatten (S1) und Lügen (S3) die Rede ist.

Zu Deinen Anmerkungen, eKy, habe ich mit Obigem teilweise schon etwas gesagt. Du hast auf alle Fälle völlig recht, dass einige Formulierungen grammatisch grenzlastig sind, wie etwa das etwas ungewöhnliche "als" in S2Z4 (man könnte es als eine verkürzte "so wie"-Konstruktion zu lesen versuchen, aber ein wenig sperrig bleibt es doch. Auch der irgendwie verkürzte, nicht ganz vollständige wirkende Schluss wäre so eine Leseherausforderung. Wie in meiner Antwort an Copper angedeutet, ist das hier ein Stück weit beabsichtigt.

Sehr schön hast Du auch die Unterscheidung von Glückspiel und Glücksspiel herausgearbeitet, lieber eKy. Aufgrund der das ganze Gedicht durchwabernden "Zwielichtigkeit" würde ich hier tatsächlich die "Pokervariante" bevorzugen, weil diese das Liebesthema ein bisschen verfremdet.

Über die Apostrophe muss ich aber tatsächlich nochmal kritisch nachdenken. Beim "selband" ist ja eigentlich auch eine der Sprachüblichkeit widersprechende Verkürzung von "selbander" vorgenommen worden, da hatte ich das Gefühl, dass ich durch den Apostroph die Stelle etwas unfallärmer lesbar mache... beim "letzt" weiter unten, muss ich Dir zustimmen, dass das grundsätzlich noch nicht ganz so optimal rüberkommt... ich begrübele die Stellen noch ein bisschen.

Auch über Deinen Kommentar, lieber gum, habe ich mich wirklich sehr gefreut! :) Du hast wunderbar die Wechselbeziehungen zwischen den Verliebtheitsgedanken und dem Märchenthema herausgearbeitet und die beiden Möglichkeiten aufgezeigt, wonach entweder die schutzbietende Märchenkonstellation eine Liebesgeschichte ermöglicht oder die Liebesbeziehung die Märchenmotive heraufbeschwört als einen Gegenentwurf zur äußeren Welt. Auch auf die Doppeldeutigkeit das dunklen Märchenwaldes weist Du hin, was ich ganz wunderbar finde: im Mächenwald hausen Wolf, Hexe und Menschenfresser, es ist aber auch der Ort, an dem Wünsche in Erfüllung gehen können.

Und jetzt noch der Nachrag, zur Frage von Copper, was es überhaupt mit dem "selband" auf sich hat (hab ich oben vergessen): Es gibt eine alte Sprachfügung, wonach man durch ein vorangestelltes "selb" eine Mehrzähligkeit von Personen ausdrücken kann. Am üblichsten ist dabei "selbdritt", was man als "miteinadnder zu dritt" oder "als Teil einer Dreiergruppe" übersetzten könnte. "selbviert" wäre dann "miteinander zu viert" usw. Für die Zwei-Personen-Konstellation hieße es dann allerdings nicht "selbzweit" sondern "selbander". Das sind alles halbwegs ausgestorbene Wendungen und dass die Formulierung "selbdritt" noch am ehesten "gebräuchlich" (nunja) ist, liegt an einem Sujet in der bildenden Kunst: Das Jesuskind mit Mama (Maria) und Oma (Anna) ist ein im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit häufig auf die Leinwand gebrachtes Familienidyll und wurde üblicherweise mit "Anna selbdritt" betitelt (also "Dreipersonengruppe mit Anna").

LG!

S.