Hi eKy!
Ich denke, das ist sowohl mit dem von Dir erwähnten "Fortschritt" wie auch mit der "Kunst" ziemlich kompliziert.
Die wenigsten "Werke" der Kunst und des Fortschritts besitzen diese statische Grandezza, durch welche sie "auf ewig" (naja... nach menschlichen Maßstäben
) eine "Geltung" beanspruchen dürfen.
In der Fortschritts-Sphäre sind vielleicht die Entdeckung der Wundheilung ohne Eiterbildung, die "Erfindung" der irrationalen Zahlen oder die Beschreibung der Entstehung der Arten durch Evolution solche leuchtenden Beispiele.
Bei der Erfindung von Feuer, Rad und Schwarzpulver (oder gar Nuklearenergie oder Kunststoff-Synthese) wird man den Nutzwert schon wieder etwas stärker Kontext-abhängig gewichten wollen (oder sogar in Frage stellen).
Und bei der Kunst gibt es eben auch die sehr wenigen Kunstwerke, die einen dauerhaften "Wert" (was ist das bei einem Kunstwerk eigentlich?) besitzen, sozusagen die Klassiker.
Es gibt aber auch die Kunstwerke, die anfangs als relativ wertlos betrachtet wurden (nicht aus Fehleinschätzung sondern im Hinblick auf die Wertigkeit in der jeweiligen Zeit) und die über die Jahrhunderte plötzlich zu Klassikern gereift sind. Auch umgekehrt lassen sich Beispiele finden von Kunstwerken, die zur Entstehungszeit Begeisterung auslösten (wiederum nicht aufgrund einer Fehleinschätzung, sondern aufgrund ihrer in der jeweiligen Zeit gegebenen Wirkung), die aber "schlecht gealtert" sind und in den Bereich des Verstaubten, Vorgestrigen oder sogar des unfreiwillig Komischen abgeglitten sind.
Was will ich damit sagen?
Nun... wenn der "Wert" von Kunst Kontext-abhängig ist (oder sein kann), bedeutet dies eben, dass es nicht nur auf das Kunstwerk an sich ankommt, sondern auch auf die "Konsumenten" der Kunst, also das Publikum.
Die sozusagen technische Seite der Kunst, also die "Machart", ist demnach nur eine Seite der Medaille. Im Fall eines Gedichts wäre dies beispielsweise die kunstvolle Verfertigung in ausgefeilter Sprache mit einem komplexen Reimschema und einem fehlerfrei gestalteten Metrum, das Ganze dann womöglich mit weitere virtuosen "Kabinettstückchen" formaler oder inhaltlicher Art angreicht. Es wäre aber durchaus möglich, dass so ein Gedicht einfach nicht in die Zeit passt und daher beim Publikum durchfällt. Vielleicht wäre es sogar so (für den deutschen Sprachraum gibt es Anzeichen), dass
jedes Gedicht beim Publikum mehr oder weniger durchfällt, weil diese Gattung einfach nicht als zeitgemäß empfunden wird.
Wenn man sich nun aber dem Publikum etwas genauer zuwendet, wird man (und das gilt für alle Zeiten!) erkennen, dass die Mehrzahl der Menschen einfach andere Sorgen hat, als sich für Kunst zu interessieren. Der Kreis der "Kunstliebhaber" ist immer schon ein etwas elitäres Ensemble, wobei elitär hier nicht im Sinne einer Macht-Elite zu verstehen ist, denn die Herrscher waren in Europa in aller Regel (seit der Römerzeit und bis auf den heutigen Tag) in der Mehrzahl totale Kunstbanausen (einige leuchtende Ausnahmen bestätigen nur die Regel). Ich behaupte in diesem Sinne mal, dass durchschnittliche, leitende Manager, Chefärzte, Betriebsleiter oder Politiker (usw. und natürlich inkl. der *innen) den Kunstsachverstand eines Schimpansen hat (no offence, lieber Troglodyt!).
Wir stehen also bei der Bewertung von Kunst in Abhängigkeit von der Publikumsmeinung vor der schwierigen Wahl, ob man hier im Sinne guter demokratischer Praxis auch Banausen (*innen) in das Urteil einbeziehen sollte, die von Tuten und Blasen Ahnung haben, aber nicht von Kunst oder ob man eine gewisse Mindestinformiertheit zur Bedingung machen soll, was dann wieder die Frage aufwirft, wer das wieder zu Beurteilen haben soll. Letztlich kommt man hier nicht so richtig weiter und das ist wohl auch der Grund, warum viele Mitmenschen dann die Zuflucht in den völligen Solipsismus nehmen: Kunst ist das, war mir persönlich gefällt (und ich mag halt keine *hier bitte nach Wahl etwas ergänzen*).
Sowohl auf Basis eines völlig "demokratischen" Common Senses als auch auf Basis einer völlig Ego-basierten Einzelmeinung wird man in vielen Fällen dahin gelangen, zeitgenössische Kunst (z. B ein "modernes" Gedicht) als Verschrobenheit oder gar als Veräppelung zu verwerfen. Ich glaube aber, es entgeht einem einiges, wenn man die (durchaus kritische und differenzierte) Meinung von Kunstkennern als verquastes Getue abqualifiziert und außer acht lässt. Und es ist nun einmal so, dass man unter Menschen, die sich in Lyrik wirklich auskennen, viele finden wird, die an dem ein oder anderen zeitgenössischen Gedicht durchaus Gefallen finden. Das muss die persönlichen Geschmacksvorlieben gar nicht tangieren, aber es könnte womöglich eine gewisse (potentielle) Grundoffenheit generieren, ein ästhetischen Hintertürchen der Art: "Also bis jetzt hat mich noch kein zeitgenössisches Gedicht wirklich überzeugen können... aber das kann ja vielleicht noch kommen... "
LG!
S.