Hi eKy!
Wenn ich ein Gedicht lese, nehme ich persönlich tatsächlich zunächst die formalen Aspekte wahr, bevor ich tiefer in den Inhalt eindringe - bei komplexeren Inhalten benötige ich für die Bedeutungs-Rezeption womöglich einen dritten oder vierten Lesedurchgang, wohingegen die formale Erstanalyse (Zeilenumbrüche, Strophengliederung, Metrum, Reim, Art des Satzbaus, Groß/Kleinschreibung etc.) nach dem ersten Durchlauf schon weitgehend "durch" ist. Ganz am Schluss kommt dann noch ein Abgleich von formaler und inhaltlicher Analyse. Na... aber das alles nur nebenbei... damit will ich erklären, warum ich mich oft in erster Linie bei meinen Kommentaren aufs Formale stürze.
Und nun also zum formalen Aspekt dieses speziellen Gedichts von Dir.
Große Begeisterung!
Du hast hier - sehr gegen Deinen üblichen Schreibinstinkt das Metrum ganz einem natürlichen Parlando dienstbar gemacht und das finde ich - schon rein abwechslungshalber - ganz wunderbar!
Aufgrund dieser hier angewandten Technik müsste man sich schon sehr anstrengen (und stark gegen die natürliche Betonung lesen), um hier ein einigermaßen "klassisches" Metrum durchzuhalten. Viel leichter lesen sich die Zeilen, wenn man Hebungen und Senkungen sehr weitgehend aneinander angleicht und in normaler (ungebundener) Sprache liest.
Würde man hingegen Hebungen und Senkungen stärker herausarbeiten, aber dabei die üblichen Wortbetonungen nicht ignorieren, dann ergäbe sich ein relativ "unregelmäßiges" Metrum.
Nun hast Du den Befähigungsnachweis für Gedichte in regelmäßiger, gebundener Sprache schon weidlich übererfüllt und daher ist dieser Text natürlich nicht einer plötzlichen metrischen Blindheit geschuldet, sondern offensichtlich in dem Willen verfasst worden, einmal etwas anders an die Sache heranzugehen. Ich finde, das ist hier großartig aufgegangen.
Und wenn ich nun die Form gegen die Inhalt abgleiche, dann ist die formal eher freie Handhabung des Metrums durchaus stimmig zum Inhalt, der mich in seinem aufklärerisch-gesellschaftskritischen Gestus an viele Vorbilder dieser Art von Heine über Brecht, Tucho, Kästner bis Degenhardt und Biermann erinnert (eine etwas fallende Qualitätslinie in dieser Aufzählung von Namen kann ich nicht ganz von der Hand weisen). Alle genannten (und auch von Degenhardt und Biermann gibt es viele sehr "gültige" Werke zu bewundern) haben in Gedichten in diesem aufklärenden Habitus bewusst eine etwas einfachere (oft formelhafte) Sprache gewählt und sich beim Sprechrhythmus absichtlich der normalen Sprache angenähert, was natürlich die Zugänglichkeitsschwelle herabsetzt, aber auch der Eingängigkeit dienlich ist.
Also von mir: Sämtliche Hüte gezogen! Sehr sehr schön (und gar nicht so einfach "nachzumachen" - das kann jeder geübte Schreiber in gebundener Sprache mal ausprobieren, so eine "normale" Sprechmelodie in einem Gedicht einzufangen ist durchaus knifflig
).
LG!
S.