Autor Thema: Die 'saubere' Moral  (Gelesen 944 mal)

Erich Kykal

Die 'saubere' Moral
« am: Februar 06, 2022, 12:57:34 »
Worin wir alle Süße und Erfüllung finden,
ist vielgestaltig wie die Formen von Gesichtern,
ob Körperteile - oder Rollen, die wir spielen.
So viel davon erklären wir zu schlimmen Sünden,
erheben uns zu selbst erklärten, grimmen Richtern
an allen 'Schwachen', die in unsern Augen 'fielen'.

Wir treiben gern in Ekelhaftigkeit und Schande,
was anders leben will als kulturell Erklärtes,
nur weil wir nicht verstehen wollen, was es treibt.
Wir kommen dabei kaum mit eigner Lust zurande,
und was wir uns verbieten, ewig schwärt es,
bis nur noch Hass auf jene, die es wagen, bleibt.

Und wo wir um uns schlagen, triefend von Verachtung,
um uns im Lichte zu erhöhen, das uns scheint,
wenn wir uns herz- und hirntot beten vor Entrüstung,
entarten wir in selbstgefälliger Betrachtung:
Wo jeder seinen 'wahren Gott' zu schauen meint,
erhärtet die 'moralisch einwandfreie' Rüstung!
« Letzte Änderung: Juni 25, 2023, 22:58:49 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Die "saubere" Moral
« Antwort #1 am: Februar 06, 2022, 18:39:52 »
Lieber Erich,

ein schönes Reimschema und eine kostbare Sprache.
 
Inhaltlich geht es um die Selbstgerechtigkeit der Moralisten oder ganzer Kulturkreise, die ihnen fremde Verhaltensweisen einfach verdammen, während sie mit den Verboten, die sie sich setzen und als gottgegeben hinstellen, meist selbst nicht zurechtkommen (da sie z.B. an der Natur des Menschen vorbeigehen).

Moral hängt immer auch von der sozialen Schicht ab. Was die einen Gewinne erzielen nennen, ist für die anderen Ausbeutung.

Sehr gern gelesen.
Gruß von gummibaum

Den dritten Vers verstehe ich nicht: wie kann man Körperteile spielen?

« Letzte Änderung: Februar 06, 2022, 18:42:25 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Die "saubere" Moral
« Antwort #2 am: Februar 07, 2022, 16:49:41 »
Hi Gum!

Du musst den Satz von Beginn an lesen: Worin wir alle Süße und Erfüllung finden, // ist vielgestaltig wie ... , // ob Körperteile (an oder in denen wir Süße und Erfüllung finden) - oder Rollen (an oder in denen wir Süße und Erfüllung finden), die wir spielen.

Alles bezieht sich auf die erste Zeile, Z3 nennt nur Beispiele.

Ich wage zu behaupten: Moral mit menschlichem Angesicht hängt letztlich vom Charakter, dem Intellekt sowie der Charakterstärke des Einzelnen ab - er entscheidet letztlich, ob er mit dem kulturell Angebotenen konform gehen will oder sich eigene moralische Prämissen zulegt. Ob er sich irgendwann aus den Vorgaben seiner Erziehung lösen will oder sie kritiklos übernimmt und weiterträgt.
Das funktioniert in beide Richtungen - "gut" oder "böse", und selbst das wird vom jeweiligen Zeitgeist definiert.

Beispiel:

Vor noch 200 Jahren war außerehelicher GV undenkbar (außer man war ein Mann und hatte Geld für Huren, aber das musste natürlich geheim bleiben in den "höheren Kreisen" ...). - Nach heutigen Maßgaben haben weder Mann noch Frau gesellschaftliche Ächtung zu befürchten, wenn sie sich ehelos vergnügen - außer vielleicht in den rigidesten alten Königsdynastien, die in vielerlei Hinsicht im Gestern steckengeblieben sind ...  ::) - oder vieleicht noch für katholische oder muslimische Strenggläubige, die so wenig geistige Eigenständigkeit und Mut zur Unabhängigkeit aufbringen, dass für sie ohne päpstliche Führung oder das Wort des Imams die Welt zusammenbräche ...  ::)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Die "saubere" Moral
« Antwort #3 am: Februar 07, 2022, 21:33:18 »
Hi eKy! :)

Bei Deinen Gedichten gibt es ja in Bezug auf die überaus gediegene Sprache (eine Untetreibung!) eigentlich im "objektiven Sinn" nie etwas wirklich zu beanstanden. Wenn ich mal herummäkele, dann entweder, weil ich etwas inhaltlich anders sehe oder weil ich Petitessen "verbessere", die mir bei unbegabten Dichtern keiner Erwähnung Wert wären, da bei denen ganz andere Klöpse  den Lesegenuss trüben... ;)

Nunja... eine etwas bedenkliche Vorrede, weil sie zwar verdientes und hohes Lob beinhaltet, aber man wartet schon auf das große: ABER DIESMAL... ;)

Das kommt aber auf der objektiven Seite auch im vorliegenden Fall durchaus nicht...  ;D Ich habe nämlich wieder einmal nichts wirklich "objektiv" zu kritisieren...

Und jetzt kommt doch noch eine Art Einschränkung - aber eben eine der äußerst subjektiven Art: Es wollte sich in diesem Fall trotz aller objektiver, erstklassiger Wertigkeitstatbestände kein rechtes hedonistisches Momentum bei mir einstellen, was wohl mehr über mich (genauer: mein aktuelles Ich) als über Deine Verse aussagt. :)

Es sind hierfür wohl bestimmte Idiosynkrasien am Werk, die ich am ehesten in einer Art kulinarischen Ebene (metaphorisch gesprochen) suchen würde. Der kluge Tucholsky hat einmal über den Ulysses von Joyce gesagt, dieser Roman sei so etwas wie literarisches Fleischextrakt.... man könne damit in kluger Verdünnung eine Suppe würzen, aber man könne es nicht pur genießen.

Nun... mit Joyce hat Deine Dichtung in ihrer Poetologie natürlich nichts und gar nichts zu tun... aber beim Lesen der sprachlich sehr komplexen (überkomplexen?) Zeilen, stellte sich bei mir auch ein gewisses Fleischextrakterlebnis ein. Teilweise davon ausnehmen würde ich für mich die Mittelstrophe, deren Klang- und Reimflow mich durchaus zu beglücken wusste. Vielleicht ist es ja auch nur die etwas sperrige erste Strophe, mit den durchgängig weiblichen Kadenzen, die mich nicht "in the zone" kommen lässt (?) - ich bin unsicher. Vielleicht sind auch die "Halbreime" von Verachtung/Betrachtung mit Entrüstung/Rüstung (also die -ung-Häufung) etwas akzeleriert (es sind natürlich keine echten Reime). Hm... ein wenig hilflose Erklärungsversuche im Oberflächlich-Formalen... wahrscheinlich lässt es sich so einfach halt nicht fassen.

Und jetzt dann doch das Wichtigste zum Schluss: Außer der sehr vagen Frage mit den Kadenzen der 1. Strophe und der -ung-Häufung in der letzten gibt es m. E. hier wirklich objektiv überhaupt nix zu mäkeln. Sehr, sehr schöne Sprache und äußerst nachhaltige Gedankentiefe. Also wahrscheinlich liegt das Problem (s. o.) irgendwie heute mehr bei mir... vielleicht sollte ich das Werk einfach in ein paar Tagen nochmal lesen. :)

LG! :)

S.

gummibaum

Re: Die "saubere" Moral
« Antwort #4 am: Februar 07, 2022, 23:46:27 »
Danke, lieber Erich,

für die Erklärung. Aber müsste es dann nicht heißen: "ob in Körperteilen oder Rollen, die wir spielen" ?

LG g

Erich Kykal

Re: Die "saubere" Moral
« Antwort #5 am: Februar 08, 2022, 17:47:19 »
Hi Gum!

Nein, müsste es nicht. Man kann es natürlich auch so wie du ausdrücken, aber meine Version ist grammatikalisch nicht falsch.

Man könnte bei meiner Version ja ergänzen: "Ob (es nun) Körperteile (sind) - oder Rollen, ...".


Hi Suf!

Kein Problem! Dass ich zuweilen überkomplex konstruiere, ist mir bewusst - es passiert meist dann, wenn ich eher uninspiriert schreibe, also ohne tieferes Gefühl dabei - Hirnwixerei eben ...  ;) ::).
Hier ging es mir um die Formulierung eines philosophischen Gedankens zur oberflächlichen, subjektiven Urteilsmoral menschlicher Kulturkreise. Das erlebte Gefühl dazu stand eher im Hintergrund. Dann kann es passieren, dass ein Gedicht etwas Vorlesungshaftes bekommt, trotz der geschminkten Sprachgewalt.

Ich habe kein Problem damit, dass ich es nicht immer allen recht machen kann - das schaffen alle anderen ja auch bei mir nicht!  ;) Damit kann ich gut leben, keine Sorge!  :)

Aber gute Idee: Lies es später mit etwas Abstand nochmal. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass mir alte Werke von mir, die ich damals eher durchschnittlich fand, Jahre später durchaus reizvoller erschienen.


LG, eKy
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