Autor Thema: Kulturgespinst  (Gelesen 600 mal)

Erich Kykal

Kulturgespinst
« am: Januar 16, 2022, 10:17:40 »
Wir stochern blind im Nebel der Geschichte,
erfinden neu sie, machen sie zunichte,
je nach gerade herrschender Maxime.
Wer war der Feind, wer trägt die Schulden?
Wer hatte mehr vom andern zu erdulden?
Wer trennte Juden, Christen und Muslime?

Wir rühren taub im Kessel der Gefühle,
zermahlen alles in des Geistes Mühle
zu Sand, auf den wir neue Häuser bauen.
Wer weiß die Wahrheit, lässt die andre gelten?
Wer pflügt das Feld, das andere bestellten?
Wer will das eigne Tun im andern schauen?

Wir schreiben überzeugt in dicke Bände,
was richtig sei für alle regen Hände,
und tragen es den guten Kindern vor.
Wer wollte nur den „Einen Weg“ verkünden?
Wer ahnte schon, wohin die Wege münden?
Wer wusste je, woran er sich verlor?
« Letzte Änderung: Januar 16, 2022, 20:20:24 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Kulturgespinst
« Antwort #1 am: Januar 17, 2022, 11:23:14 »
Hey eKy!
Wuchtige, hämmernde Zeilen voller Kulturpessismus... ein Gestus, den ich gut nachvollziehen kann. So viel Dummheit in der Welt! Wobei die eigentliche Tragödie ist, wenn nicht nur die Bösen immer dümmer werden (dann hätte man ja künftig leichteres Spiel mit ihnen), sondern leider auch die Guten im IQ-Sinkflug durchs Bild rauschen.
Die Vorkämpfer des Gender-Sternchens sind z. B. eindeutig auf der moralisch anspruchsvollen Seite unterwegs und haben das lobenswerte (und seit Jahrhunderten überfällige) Ziel einer Versöhnung (-töcherung? ;) ) der Geschlechter vor Augen - die Maßnahmen sind aber - zumindest teilweise - derartig unintelligent, dass die modernen Sprach-Suffragetten jederlei Geschlechts zu trojanischen Eseln im Dienste ihrer  Feind*innen ;D werden.
Auch in der Pandemie konnte man wunderbar studieren, wie unreflektierte, voreilige oder grob vereinfachende Aussagen - etwa zum Thema Impfung - zur Aufmunitionierung von Gesellschaftsspaltern beigetragen haben.
Dabei gedenke ich nicht der ewigen Litanei des "Früher-waren-alle-Menschen-klüger-besser-schöner" eine unterkomplexe Facette hinzuzufügen. Ich denke sogar, dass der moralische Kompass der heutigen Generation sich als relativ empfindlich eingestellt zeigt und dass das allgemeine Faktenwissen dank Internet auch nicht von Pappe ist. Ein Problem ist jedoch, dass (1) durch die Vernachlässigung der guten alten Allgemeinbildung in den letzten Jahrzehnten und (2) durch einen um sich greifenden sozialen Neurotizismus aus dem Geist der Vereinzelung die Fähigkeit zur Differenzierung und zur Wichtung von Argumenten abgenommen hat und damit auch die Kompromisskompetenz.
Nunja... zurück zu Deinen Zeilen, eKy... :) Sie lesen sich für mich als wäre ein Andreas Gryphius sprachlich aus der Barockzeit ins mittlere 20. Jh. katapuliert worden. :) Bewusst siedele ich das Ziel der Zeitreise dabei also eher im letzten als in diesem Jahrhundert an, da Deine Traditionsbindung einer (nicht negativ zu verstehenden) unzeitgeistigen Haltung entspricht. :)
Sehr gerne gelesen!
S.
« Letzte Änderung: Januar 17, 2022, 13:58:03 von Sufnus »

Erich Kykal

Re: Kulturgespinst
« Antwort #2 am: Januar 17, 2022, 18:59:07 »
Hi Suf!

Allgemein pflichte ich deinen Aussagen bei, allerdings sollte man 2 wichtige Fakten nie außer Acht lassen:

1) Die Dummheit und Verrohung "niederer" Schichten war früher noch wesentlich schlimmer als heute - bloß konnte sich diese Masse an Unterlingen damals nie Gehör verschaffen in den Zirkeln von Macht und Kultur, sowie dem Bildungsbürgertum. Was heute an "edlem Kulturgut" zu Gebote steht, schrieb eine verschwindend winzige gebildete Minderheit.

2) Bildung steht heute allgemein zur Verfügung - leider machen besagte "bildungsferne" Schichten dennoch kaum davon Gebrauch, sei es aus Dummheit, Faulheit oder Gewohnheit und Tradierung ihres Soziotops, das "de Großkopfert'n" seit jeher grimmig verachtet.

Und leider gibt es das Internet - wo die völlig hirnrissige, beweisferne Ansicht so eines Soziotoplings mit derselben Berechtigung und demselben Anspruch auf Richtigkeit steht kann wie die Doktorarbeit eines Studierten oder der Beitrag eines sprachversierten Journalisten, der ausgiebig recherchiert hat. Und leider ist die simple, "griffige" Sprache des Bildungsentrückten für seinesgleichen viel verständlicher und näher, vertrauter und damit "ehrlicher" empfunden als das hochdeutsche, fremdwortlastige "Ang'scheitl'n" der Gebildeten Minderheit.

Als Lehrer habe ich schon des öfteren erleben müssen, dass ich fassungslos vor den Eltern eines hochbegabten, intelligenten Kindes stand, als diese - nach meinem Vorschlag einer weiterführenden höheren Bildung - meinten, "Was für mi guad gnua woa, des is a fir mei Kind guad gnua!" - meinend einen schlichten Hauptschulabschluss mit Lehre für was "Handfestes". Solche zementierten Denkschemata kriegt du einfach nicht raus aus den Leuten!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.