Autor Thema: Ein ganz besonderer Tropfen  (Gelesen 751 mal)

Erich Kykal

Ein ganz besonderer Tropfen
« am: Juli 31, 2021, 12:11:32 »
So treibt er hin, der kleine Wassertropfen
in einer Schachtel mitten auf dem Meer.
Sie schaukelt fest verschlossen hin und her,
wenn sachte Wellen an die Wände klopfen.

Der Tropfen regt sich kaum in seiner Enge,
denn er hat Angst vor diesem Ozean,
der ihn verschlingen, in sich lösen kann
als einen nur von vielen in der Menge.

Er will vereinzelt, will besonders bleiben,
und hieße das, im Dunkel zu verweilen
und einsam sein, und niemals sich zu teilen
mit jenen, die an seiner Schachtel reiben.

Zuinnerst fürchtet er, dass sie ihm zeigen,
dass er nicht wirklich je dazugehörte,
versiegelt von dem Gift, das in ihm gärte,
und ausgeschlossen von der Wogen Reigen.

So harrt er aus an seinen Schachtelwangen,
verdunstet langsam in die schwarze Luft,
und ist er endlich ganz und gar verpufft,
ist sein Besonderes mit ihm vergangen ...

... und draußen werden Wellen sich verführen
zum Tanze, wie sie es schon immer taten,
und ihre Tropfen werden sinnlos raten,
was in der Schachtel sei, die sie berühren.
« Letzte Änderung: Oktober 20, 2021, 12:28:03 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

wolfmozart

Re: Ein ganz besonderer Tropfen
« Antwort #1 am: Juli 31, 2021, 19:03:00 »
Starkes Poem, Erich.
Formulierung und "Philosohischer Hintergrund" 1A...
...ist etwas Autobiographisches dabei?  ??? ;D

Gruß wolfmozart

Erich Kykal

Re: Ein ganz besonderer Tropfen
« Antwort #2 am: Juli 31, 2021, 23:32:58 »
Hi WM!

Durchaus autobiografische Parallelen, ja.

Aber letztlich steht das philosophische Element im Vordergrund, dass wir letztlich über unsere Ängste und Ilusionen definiert werden, obwohl es dem Universum völlig egal ist, was wir mit unserem Leben beginnen - oder nicht. In letzter Konsequenz gibt es kein Richtig oder Falsch - nur Folgen und Konsequenzen, Entropie und Vergessen.

Egal, wie sehr wir "im Realen" leben oder uns von unseren geistigen Metaebenen bestimmen lassen oder uns gar dorthin zurückziehen, soweit möglich - letztendlich ist es bedeutungslos, sobald wir nicht mehr sind. Unsere Entscheidungen mögen noch unterschiedlich lang Wellen schlagen, aber letztlich wird auch die letzte brechen oder sich verlaufen.

Der Drang, "besonders" zu sein, einzigartig, ein Echo in der Zeit zu hinterlassen, etwas zu bewegen, und sei es nur durch Weitergabe der Gene, oder Neues zu entdecken, Großes zu schaffen, sich so über das "Irdische" zu erheben - ein seltsamer Trieb, bedenkt man die letztendliche Vergeblichkeit solchen Bemühens, wenn man die Zeiträume nur weit genug erweitert!
Und andere isolieren sich aus Furcht vor Verletzung, Versagen, Zurückweisung, oder dass ihnen irgendetwas nicht vergeben wird.

Ich glaube, fast jeder von uns Tropfen hat sich irgendwann im Leben in so einer Schachtel wiedergefunden, anstatt einfach Teil der Strömung zu sein - und nicht alle haben wieder herausgefunden, ehe sie verdunstet sind.  ;) Aber ohne sie treiben ihre Schachteln, die Gefängnisse ihrer tiefsten Ängste, sinnlos weiter: leere Rätsel im Meer der Ewigkeit, bis sie vergessen, versunken sind ...

LG, eKy
« Letzte Änderung: Juli 31, 2021, 23:35:39 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Ein ganz besonderer Tropfen
« Antwort #3 am: August 01, 2021, 13:33:50 »
Sehr schönes Gedicht, lieber Erich,

vom Ausnahmetropfen mit Ausnahmeschicksal.

Mit großer Freude gelesen.

Liebe Grüße von gummibaum




Erich Kykal

Re: Ein ganz besonderer Tropfen
« Antwort #4 am: August 01, 2021, 13:41:01 »
Hi Gum!

Vielen Dank!  :)

Hab gerade ein Gedicht über Salvador Dali eingestellt - hab mir seine Bilder im Netz angesehen und wurde intuitiv inspiriert. Dieses Tropfengedicht oben kann ich mit auch gut als Dali-Bild vorstellen: ein einzelner Tropfen, in der Mitte einer versiegelten Glasschachtel schwebend, einsam auf einem wilden Ozean treibend ...

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Ein ganz besonderer Tropfen
« Antwort #5 am: August 03, 2021, 16:02:07 »
Hi eKy!
Das ist wirklich ein schönes Bild (und selbstredend perfekt in Sprache umgesetzt)! :) Die Deutung wird von der Erzählstimme des Gedichts quasi mitgeliefert und benötigt daher kaum eines Übersetzers. Also will ich nur zwei Punkte lobend und preisend hervorheben: Erstens die Verschmitzheit (mit zugrundliegender an Sarkasmus grenzender Ironie) des Titels, der an einen schönen Wein denken lässt (vielleicht ist ja ein Tropfen 1947er Cheval Blanc in der Schachtel verdunstet? - ein schwerer Verlust, wenn dem so wäre ;) ). Zweitens finde ich die Differenziertheit der Darstellung des Meeres und des Eremiten sehr schön.
Die in der Anonymität der Menge befangenen Meerestropfen werden durchaus mit einer gewissen Nachsicht geschildert, sie sind auf eine fast sympathische (wenn auch etwas naiv-uninformierte) Weise neugierig auf den Schachtelinhalt und die Tatsache, dass sie den Tropfen vielleicht nicht als ihresgleichen anerkennen würden, wird (zumindest nicht nur) ihrer stumpfen Herdenmentalität zugeschrieben; auch die Möglichkeit, dass sich der Tropfen als toxisch erweisen könnte, steht zumindest im Raum.
Umgekehrt ist der Tropfen nicht nur unschuldiges Opfer widriger Umstände, sondern (Strophe 3) auch von einer gewissen sozialen Anpassungsstörung geschlagen, die ein bisschen vielleicht auch an eine gewisse Arroganz grenzt.
Vielen Dank für das schöne Bild, lieber eKy! :)
S.

Erich Kykal

Re: Ein ganz besonderer Tropfen
« Antwort #6 am: August 03, 2021, 18:20:38 »
Hi Suf!

Ja, ab und an gelingt es mir ganz gut und originell, mich selbst zu beschreiben ...  ;) >:D

Vielen Dank für die profune Analyse meiner lyrischen Bildinhalte!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.