Autor Thema: Wachstumsschmerzen  (Gelesen 537 mal)

Erich Kykal

Wachstumsschmerzen
« am: Juli 17, 2021, 12:51:53 »
Wir treiben alle, mutig oder bebend,
durch unser Zeitenteil, und manche wachsen,
nach dem ersehnten Höheren sich hebend,
verwandt dem instinktiven Zug von Lachsen,
im engen Fließen nach der Quelle strebend,

in die Behauptung eines Sinnkonstruktes
am Kreuzungspunkte aller Weltenachsen,
und Hörensagen, Predigt und Gedrucktes
lässt das Erträumte ins Gewusste wachsen,
wie Werbung für die Güte des Produktes.

Man heißt es Überzeugung oder Glaube,
sei es auf Kirchenbänken, auf Kongressen
der 'einzig richtig handelnden Partei' -
man sucht nach Süße in der sauren Traube,
dass wir am Ende tot sind und vergessen,
egal, wie prägend unser Eindruck sei.


Wir wollen, scheint's, nicht mit dem Bilde leben,
dass alles flüchtig sein muss und vergeblich,
der Mensch in seinem Nehmen wie auch Geben
bedeutungslos verbleibt und unerheblich -
so keltern wir den Geist aus schlichten Reben,

der uns berauschend eine Welt bestätigt,
darin wir ewig währen nach Geboten,
beurteilt nach den Werken, die man tätigt,
und alles unterdrücken, was verboten
vom großen Lenker unsre Neugier nötigt.

Erstarrte in Gehorsam und Beharren,
gefangen in der selbst erdachten Bindung,
verfallen wir dem Sog der Litanei,
verkommen wir zu frömmelnd stumpfen Narren,
Fanatikern im Lichte der Verkündung,
dass der Gedanke einzig wirklich sei.


So pressen gar wir die geliebten Kinder
gewaltsam in die Form, die als gegeben
wir anzunehmen lernten, so wie Rinder
ergeben mit dem Ruf des Treibers leben,
als wüssten sie sich untertan und minder.

Wir hören nicht auf ungeliebte Stimmen,
die uns ein Anderes als das erklären,
was wie der Honig zählt beim Volk der Immen:
das einst Begriffene muss ewig währen,
sei es im Guten oder in Ergrimmen!

Wie lange noch, bis wir vereint erkennen,
dass die Natur, das Universum dauern -
ganz ohne die Behauptung eines Sinnes?!
Dass wir vergeblich 'für die Sache brennen'
im blind erklärten Schutze enger Mauern,
und ohne Möglichkeit des Neubeginnes!?


Es werden Jahrzehntausende verstreichen,
eh sich der Mut zu jener Einsicht findet,
dass wir mit den Konstrukten nichts erreichen,
die unser Fürchten um die Kreise windet,
in denen wir die Wirklichkeit umschleichen.

Bis wir als Art begreifen, dass das Sterben
das Ende dessen ist, was wir bedeuten.
Wir mögen Gut und Geistesgut vererben,
als könnten wir in Ewigkeit uns häuten,
egal, was wir an Unschuld so verderben,

doch letztlich bleibt nur jene eine Bühne,
auf der wir spielen, länger noch bestehen:
Materie in kalter Entropie.
Da hilft kein wundes Beten, keine Sühne,
kein Manifest politischer Ideen:
Wir sind, so lang wir leben – oder nie.

« Letzte Änderung: Mai 15, 2024, 01:25:01 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Rocco

Re: Wachstumsschmerzen
« Antwort #1 am: Juli 18, 2021, 13:31:16 »
Hallo Erich,

die dritte und die letzte Strophe sind ausgezeichnet. Da bringst du Behauptungen auf den Punkt.

Schiller hat ähnliche Gedichte verfasst, er bettet aber alles in Metaphern und Gleichnissen, so kann man Gedanken-Lyrik schreiben.

Die Länge ist auch ok.

Einen schönen Tag

Rocco
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Erich Kykal

Re: Wachstumsschmerzen
« Antwort #2 am: Juli 18, 2021, 20:24:54 »
Hi Rocco!

Danke für den Schillervergleich. Ich schätze ihn, auch wenn er vielen zu sprachkomplex erscheint und sie sich ein Leben lang drüber ärgern, dass sie etwas von ihm in der Schule auswendig lernen mussten!  ;D

Dies ist tatsächlich mein längstes "durchgehendes" Gedicht bisher, und es gibt bestenfalls überhaupt nur ein einziges anderes in annähernd vergleichbarer Länge. Langgedichte sind nicht so meins.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Wachstumsschmerzen
« Antwort #3 am: Juli 19, 2021, 10:51:36 »
Vier schön gestaltete Strophenterzette über die Sinnsuche, bei der wir zu Herdenvieh werden, uns in Gedankengebäude und Grimm einschließen, Ewigkeit über uns auftürmen und zäh daran festhalten, obwohl objektiv kein Sinn existiert. Eine Dekonstruktion und Besinnung auf die kurze Lebenszeit lässt auf sich warten, ließe uns aber mehr vom Leben haben.

Sehr gern gelesen, lieber Erich.
.
Grüße von gummibaum
« Letzte Änderung: Juli 19, 2021, 18:47:07 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Wachstumsschmerzen
« Antwort #4 am: Juli 19, 2021, 13:47:32 »
Hi Gum!

Vielen Dank, dass auch du sich durch den langen Text "gekämpft" hast!  ;) :D Eigentlich wollte ich nach dem ersten "Strophenterzett" schon Schluss machen, aber dann hatte ich irgendwie doch noch mehr dazu zu sagen .. und mehr ... und immer NOCH mehr!  ::)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.