Autor Thema: Albtraumsonett  (Gelesen 1352 mal)

Friedhelm

Albtraumsonett
« am: Juli 17, 2021, 15:00:07 »
Seit langem muss ich oft in Träumen rennen,
mich wie ein Wild der Jagd durch Flucht entziehn,
als wolle sich mein Ich von Räumen trennen,
aus jahrelanger, strenger Zucht entfliehn.

Es heißt, dass kurz im Schlaf Geschichten dauern,
doch ewig, wenn man nicht zum Licht erwacht.
Lässt mich der Horror in Gedichten schauern,
äfft mich der Alb, der Bösewicht: er lacht!

Versuche ich, den Ausbruch schlicht zu wagen,
wächst mir der Mut auch kühn mit Sturmgewalt.
Der Nachtmahr weiß mich armen Wicht zu schlagen:
Schon schrumpf ich nachts darauf zur Wurmgestalt.

Ein Albtraum wohl, der Seelenqual vermehrt,
und der normal zu unnormal verquert.

Erich Kykal

Re: Albtraumsonett
« Antwort #1 am: Juli 17, 2021, 18:24:34 »
Hi Friedhelm!

Chapeau - ein Schüttelsonett der absoluten Meisterklasse! Eins mit Sternchen!  :)

Zum allerletzten Wort: Ich weiß, dass etwas "verquer" SEIN kann, also als Abjektiv verwendet. Ob aber die Verbform möglich ist ... - die ist mir zumindest noch nie untergekommen, denn das "normale" Wort an dieser Stelle wäre: "normal zu unnormal verkehrt."

Das solltest du unbedingt nachschlagen und auch im Zweifelsfall austauschen, denn phonetisch bleibt der Schüttler ja durchaus korrekt erhalten.

Abgesehen davon keine Korinthen zu kacken gefunden!  :D

Sehr gern gelesen und bewundert!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Friedhelm

Re: Albtraumsonett
« Antwort #2 am: Juli 17, 2021, 20:46:34 »
Hi Erich,

vielen Dank für dein Lob. Einige sprachliche Verbesserungen verdanke ich dir übrigens von deinem Kommentar auf dem Eiland vor einigen Jahren.

"Verkehrt" würde nicht korrekt schütteln, da das "Qu" von Qual erhalten bleiben muss.

verqueren kenne ich in der Bedeutung leicht absurd verdrehen.

Auch aus der Bergmannsprache ist es bekannt in der Bedeutung quer durchfahren. Österreich: Eine Lagerstätte mit einem Querschlag anfahren ...

LG Friedhelm



 

Erich Kykal

Re: Albtraumsonett
« Antwort #3 am: Juli 17, 2021, 21:37:11 »
Hi Friedhelm!

Du sagst es: "In der Bedeutung von ..." ... - in einer anderen als von dir im Gedicht verwendet. Für mich passt das einfach nicht zusammen so, und ich habe das Wort als Verb verwendet wirklich noch nie irgendwo gelesen - und ich lese viel. Aber ich hab eben andere Prämissen als den perfekten Schüttelrahmen. Wenn die Verwendung des "qu" wichtiger ist als korrekte Sprachhabung - sei's drum. Keine krausen Gedanken darob ...

LG, eKy
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Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Friedhelm

Re: Albtraumsonett
« Antwort #4 am: Juli 18, 2021, 08:25:07 »
Hi Friedhelm!

Du sagst es: "In der Bedeutung von ..." ... - in einer anderen als von dir im Gedicht verwendet. Für mich passt das einfach nicht zusammen so, und ich habe das Wort als Verb verwendet wirklich noch nie irgendwo gelesen - und ich lese viel. Aber ich hab eben andere Prämissen als den perfekten Schüttelrahmen. Wenn die Verwendung des "qu" wichtiger ist als korrekte Sprachhabung - sei's drum. Keine krausen Gedanken darob ...

LG, eKy


Erlaube mir, Erich, zu erwähnen, dass du gegen die Forumulierung auf dem Eiland keine Einwendungen hattest, du hast mir sogar bei der sprachlichen Verbesserung beigestanden:

Zitat

Ein wahres Meisterstück, sowohl was Sprache angeht als auch die wunderbar untergebrachten Schüttler!

Man muss ja sagen, mitunter muss man Schüttelreime etwas an den Haaren herbeigezogen verbauen, damit sie als Vers noch einigermaßen Sinn ergeben - du hingegen hast es so drauf, dass man solch einen Eindruck (beinahe) nie hat - und hier schon gar nicht!
Wunderbar zu lesen und auch lyrisch ausgesprochen gelungen!

Ein paar Peanuts:

S3Z3 - Kein Komma nach "weiß".

S3Z4 - ist so geschrieben zu lang. Schreib einfach "schrumpf" ohne "e" dran, dann passt es genau.

Die Conclusio fällt natürlich hebermäßig aus dem Sonettrahmen. Solltest du das mal ändern wollen, hier eine statthafte "Verlängerung", der auch gleich die gespreizte Inversion in der oberen Zeile beseitigt:

"Ein Albtraum wohl, der Seelenqual vermehrt,
und der normal zu unnormal verquert."


Sehr gern gelesen und beklugfummelt!

Schade, dass du das jetzt anders siehst. Ich sehe "verqueren" durchaus in dem von mir erwähnten Sinn verwendet, etwas verquer machen. Nenne es mal dichterische Freiheit.

LG Friedhelm 



Erich Kykal

Re: Albtraumsonett
« Antwort #5 am: Juli 18, 2021, 10:44:40 »
Hi Friedhelm!

Ich sagte ja schon im letzten Kommi, dass es für mich okay ist, wenn du die Exaktheit des Schüttelschemas über die Exaktheit der Sprache stellst. Unterschiedliche Prämissen, kein Grund für Streit oder schlechte Laune.

Warum ich damals das "verquert" nicht monierte, weiß ich nicht (mehr), aber vielleicht ist es mir gar nicht weiter aufgefallen. Wahrnehmung ist selektiv, und vielleicht habe ich dort einfach automatisch den für mich korrekten Begriff hingelesen.

Einen Neologismus zu schaffen, steht dir als Dichter jederzeit zu. Inwieweit er von der Leserschaft angenommen wird, steht jedem Leser für sich zu.  ;) :)

LG, eKy
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Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Albtraumsonett
« Antwort #6 am: Juli 18, 2021, 16:17:14 »
Hi Friedhelm,

von mir auch große Begeisterung und keinerlei Verbesserungsvorschläge. Das ist für mich perfekt so, wie es ist und "verqueren" gefällt mir als ein Beinahe-Neologismus gerade ganz besonders gut! Yeah! :)

Es waren ja immer schon die Dichter, die sich besonders um die Schaffung neuer Worte bemüht oder "neue" Wörter zumindest popularisiert haben. Philipp von Zesen, Joachim Heinrich Campe, Jean Paul usw. Ob sie wirklich "Entwurf", "Angsthase", "Weltschmerz" oder "Abstand" in ihrer heute gebräuchichen Bedeutung "erfunden" haben oder nur zur Verbreitung dieser Wörter beigetragen, darüber streiten selbst die Gelehrten.

Aber selbst wenn es einem Dichter vom Schicksal nicht gegeben ist, dass sich eine seiner Wortneuschöpfunge bis in die Alltagssprache durchschlägt, so trägt doch jedes "neue" Wort dazu bei, dass ein Leser die Sprache mit frischem Blick betrachten kann und dass so die Aufmerksamkeit gegenüber unserem Sprechen (und Denken!) neu geschäft wird.

So sehr unterscheidet sich dabei in der Wirkung übrigens die "Erfindung" neuer Wörter nicht von der Reanimation altertümlicher Ausdrücke (die Du eKy ja gerne betreibst). Auch durch das Ausgraben einer "antiken" Wendung wie Odem, Metze, Zähre, Allotria usw. wird der Blick des Lesers wieder neu justiert.

Also von meiner Seite aus: Volle Kraft voraus mit dem Blick in den Altfundus und der Schaffung neuer Wendungen. :) Verqueren jedenalls merk ich mir. :)

LG!
S. 



Friedhelm

Re: Albtraumsonett
« Antwort #7 am: Juli 19, 2021, 07:38:49 »
Hi Sufnus,
es freut mich sehr, dass du meinen Beitrag so positiv siehst. Schüttelreimer sind auch Wortakrobaten und Wortschöpfer. Du erwähnst Philipp Zesen. Mit ihm und anderen habe ich mich auch schon beschäftigt:


Hommage an Gerhard Wahrig¹, Philipp Zesen² und Ludwig Harig³

Macht Wahrig heiter, tut mir Philipp Zesen Leid.
Bei Harig weiter nehm ich mir zum Lesen Zeit.

¹ Gerhard Wahrig, Sprachwissenschaftler, berühmt ist sein umfangreiches Wörterbuch, mir lieber  als der Duden.
² Philipp Zesen, Sprach-, Vers- und Orthographiereformer, soll für zahlreiche Fremdwörter Verdeutschungen gefunden haben, z.B. Rechtschreibung statt Orthographie. Zesen ist heute weitgehend vergessen.
³ Ludwig Harig, deutscher Schriftsteller und Sprachkünstler

LG Friedhelm