Autor Thema: Zwang-Haft  (Gelesen 604 mal)

Erich Kykal

Zwang-Haft
« am: Juli 12, 2021, 12:01:37 »
Die Stadt rückt ins Helle, und bald sind die staubigen Straßen
verstopft von Verkehr, und die Schwaden der Abgase stinken,
und Kinder, die mitten darin ihren Müttern noch winken,
sind längst es gewöhnt, wie die Lieder, die lang sie vergaßen.

Man hastet und fürchtet, zu spät zu der Fron zu erscheinen,
die alle gefangen hält, klaglos bis hin an ihr Alter,
gestaltet von andern, doch keiner sein eigner Gestalter -
behauptete Fülle, als wäre mit sich man im Reinen.

Zuletzt noch die Gnade behaupteter Freiheit am Ende,
wenn lang schon erloschene Triebe ersatzlos entglitten,
ein vages Versickern in Ritzen des Daseins inmitten
der Wohlstandsgesellschaft und all ihrer eisernen Wände.

Wie sonst soll es gehen, erfrecht sich so mancher zu fragen,
dass Menschen befreit sind und doch die Maschine befeuern,
die alles erhält, was wir schafften? Was bleibt zu erneuern,
wenn alle die Bürde gewöhnt sind, die stumpf sie ertragen?
« Letzte Änderung: Juli 14, 2021, 17:44:55 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Rocco

Re: Zwang-Haft
« Antwort #1 am: Juli 12, 2021, 16:31:17 »
Hallo Erich,

gewohnt kritisch. Nachdem ich dein Gedicht gelesen hatte, lag mir ein Wort auf der Zunge: Wohlstands-Stumpfheit. So könnte man deine Verse auf den Punkt bringen.

Wenn alle gewohnt sind, Hürden zu ertragen, was soll man erneuern? So gefragt fällt mir nur eine Antwort ein: die Bürde selbst.

Dir einen schönen Tag

Rocco
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Erich Kykal

Re: Zwang-Haft
« Antwort #2 am: Juli 12, 2021, 18:04:46 »
Hi Rocco!

Das Gedicht ist gesellschaftskritisch, beschreibt den "gewohnten Trott", mit dem man sich als Berufstätiger (oder -täter) nur allzu rasch abfindet und sich an ihn gewöhnt, bis man gar nicht mehr das System selbst hinterfragt, in dem man seinen Beitrag leistet, während andere nur ausnutzen und profitieren und sich dann abseilen.
Es geht um die "Zwanghaftigkeit" im doppelten Wortsinn, die einen in dieser Mühle des Alltags verharren lässt, gebunden von Gewohnheit und sozialen/familiären Verpflichtungen. Jeder weiß, er könnte frei(er) sein - aber kaum jemand geht den Schritt. Man verliert den Mut dazu, wenn man zu lang in der Tretmühle geht ...

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Zwang-Haft
« Antwort #3 am: Juli 14, 2021, 11:05:17 »
ich sage ja immer: Bedingungsloses Grundeinkommen für alle. Dann kann jeder sein Leben leben wie er mag und arbeiten mit Freude. LG von Agneta

Erich Kykal

Re: Zwang-Haft
« Antwort #4 am: Juli 14, 2021, 13:41:37 »
Hi Agneta!

Schöner Gedanke, und in einem idealen Land mit idealen Menschen gut umsetzbar. In der Realität gibt es leider vergleichsweise viele, die nur so täten, als würden sie arbeiten, und auch viele, die sich nicht mal Mühe gäben, der Welt etwas vorzumachen. Hier gibt es leider jene, die so ein System nur egoistisch ausnutzen würden, ohne wirklich etwas beizutragen, oder die das Nichtstun nur allzu bald als ihr "gutes Recht" betrachteten und sich über jeden erbosten, der sie dazu bringen wollte, sich tatsächlich nützlich zu machen.

Deshalb hat ja auch der Kommunismus nie in der Realität funktioniert: Theoretisch ein gerechtes System, das aber leider einige charakterliche Grundzüge des Menschen ignoriert hat. Was keinem einzelnen gehört, für das fühlt sich letztlich auch kein einziger Einzelner verantwortlich, es zu pflegen und zu erhalten. Die Maschinen verrosteten in den Kolchosen, weil es an Ersatzteilen mangelte und sich niemand dafür verantwortlich sehen wollte. Das Land verwilderte, weil es niemandem gehörte und sich also keiner zuständig fühlte, etwas zu unternehmen. Fassadenmäßig funktionierte es eine Weile mehr schlecht als recht, meist nur unter Zwang und Androhung von Konsequenzen - oder nackter Angst vor dem staatlichen Terror, aber auf Dauer konnte bei der Art der menschlichen Natur so nichts gedeihen.

Eingedenk dessen vermute ich, dass auch ein garantiertes Grundeinkommen viele dazu verleiten und korrumpieren könnte, sich einfach auf die faule Haut zu legen und nur zu schmarotzen (ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ICH mich sehr versucht fühlen würde ...  :o). Würde also auf Dauer nicht funktionieren - auch hier wegen der Art der menschlichen Natur.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Zwang-Haft
« Antwort #5 am: Juli 14, 2021, 17:02:19 »
ich verstehe, was du meinst, Erich, aber Harzt 4 missbrauchen, was viele tun, ist Schmarotzen. Bedingungsloses Grundeinkommen wäre es nicht. Zumal im Zeitalter der Digitalisierung viele Arbeiten wegfallen und Höherqualifizierung auf Grund von schlechter Bildung nicht in Frage kommen. es wird tausende Arbeitslose geben. Den Menschen, die zusätzlich arbeiten wollen, könnte es eine Last nehmen ( die dein Gedicht beschreibt). Junge Menschen könnten sich einen Kredit für ein Häuschen leisten und Alte müssten nicht Flaschen sammeln. Das ist nicht Kommunismus, sondern an gesellschaftlichen Wandel angepasstes politisches Handeln.
Kommunismus hat schon James Orwell beleuchtet. Neben den Folgen, die du beschreibst, kommt eine Machtschicht dazu, die eben gleicher ist als die anderen. Der Mensch ist zum Kommunismus nicht fähig.
LG von Agneta

Erich Kykal

Re: Zwang-Haft
« Antwort #6 am: Juli 14, 2021, 17:33:30 »
Hi Agneta!

Ich verstehe dein Ansinnen, aber ob man es nun Schmarotzen nennt oder anders: Bei garantiertem Grundeinkommen würden viele überhaupt nie irgendetwas tun. Ob jene, die mehr verdienen wollen, diesen hypothetischen Prozentsatz volkswirtschaftlich noch auffangen können - oder WOLLEN, das ist die Frage, um die es sich hier dreht.

Wenn Menschen nämlich Angst haben, zu kurz zu kommen, oder das ihnen etwas weggenommen oder vorenthalten werden könnte - und sei es auch im Namen des Allgemeinwohls - schalten sie sehr rasch auf "egomanisch". Haben wir bei der Flüchtlingswelle doch wieder so vorhersehbar erlebt: wie rasch wurde die anfängliche  "Willkommenskultur" zur manischen Fremdenangst und Stärkung der extremen Rechten!?
Plötzlich spielten Leid und Elend der Vertriebenen keine Rolle mehr in der Diskussion, als es nämlich darum ging, für sie Platz zu machen (oder gar für sie zusammenrücken zu müssen, bewahre!). Da hörte man plötzlich nur noch von "Überfremdung", "Ausländerkriminalität", "Schleichender Islamisierung", "Völkischer Treue", bla bla bla ...

Ich kann mir nur zu gut vorstellen, dass jene, die arbeiten, sich sehr bald fragen würden, warum sie mit ihrem Schweiß all jene, die nichts für ihr Geld zu tun bereit sind, mit erhalten und stützen sollen. Und nicht ganz zu Unrecht. So viel "Gemeinschaftsgewissen", für alle "tauben Nüsse" mit zu arbeiten, nur damit es ein wenig fairer zugeht, traue ich nur wenigen Menschen zu. Zu wenigen. Und ich weiß nicht wirklich, ob ich da dabei wäre ...

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.