Autor Thema: this  (Gelesen 919 mal)

cyparis

this
« am: Juli 16, 2015, 17:26:10 »


Thieß - wie hätte ich den Mann geliebt -
den mit der offnen Brust,
dem man die Rippen auseinanderbrach.
Der in der Schlacht verlor
und dennoch gibt und wieder gibt.
Als hätte er gewußt um der Kräuter Sprach.
Der Korb liegt offen;
Jedermann darf fühlen, wie's da klopft.
Er war der blonde Tor,
der in Constanza strandete,
am schwarzen Strand beinah versandete
und die Schuppenfrau heiß freite.
Die Unbereite.

Dann kommt ein Namenloser an.
"Das freche Aug, das junge!"*
Zeigt, daß er auch nichts Weiters kann.
Und pfeift aus seiner armen Lunge.







* frei nach A. Schnitzler





ad hoc
16. Juli 2015
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Sufnus

Re: this
« Antwort #1 am: Juni 23, 2021, 18:45:01 »
Liebe Cypi,

heute widme ich mich Erkundungsmissionen in zurückliegende Wiesen-Zeiten und bin dabei auf dieses schöne Gedicht gestoßen.

Immer wenn ein Gedicht länger unkommentiert blieb, frage ich mich, warum ihm die mitgeteilte Beachtung wohl versagt blieb. Manchmal liegt es an der Qualität, die nicht ganz über jeden Zweifel erhaben ist. Manchmal ist das Gedicht gar zu persönlich gehalten und keiner traut sich ran. Gar nicht selten spielt auch der Zufall eine destruktive Rolle. Am Einstellungstag im Forum war vielleicht besonders viel los und dieses eine Gedicht ist gerade im Getümmel untergegangen. Oder es war besonders wenig los - mangelnde Resonanz mangels Publikum also.
 
Und dann gibt es die Gedichte, die dem Leser ein bisschen zu schwierig sind, zu voraussetzungsreich, sprachlich zu komplex, inhaltlich rätselhaft oder gar obskur usw. So etwas schätzt man als Leser oft nicht so sehr. Und noch weniger gerne schreibt man dann etwas zu dem Text und blamiert sich mit einem in viele Worte gekleideten "Häh?!".

Aber zu seiner Verwirrung zu stehen, sich ihr zu stellen und dann zu versuchen, das Durcheinander vielleicht an einigen Punkten zu sortieren, ist eine treffliche Übung in Kombinatorik und Demut.

Der Aspekt Demut wird bei meinem Versuch, dieses Gedicht zu deuten, schon vom Titel bedient - "this" weckte bei mir die Erwartungshaltung an ein englisches Poem, was sich dann offensichtlich nicht bewahrheitete. Stattdessen ist in Z1 von einem mir zunächst einmal unbekannten Menschen namens Thieß die Rede. Sollte der Titel also ein Druckfehler sein? War "Thieß" beabsichtigt? Leider können wir von Cypi keine Auflösung erhalten.

Sehr beeindruckt hat mich dann das Einstiegsbild: Diesem Thieß wurde offenbar bei einem chirurgischen Eingriff oder einem grässlichen Unfall der Brustkorb zerrissen ("der Korb liegt offen"), so dass das Herz offen da liegt ("jedermann darf fühlen wie's da klopft"). Wir sehen: Wir bewegen uns nicht in "realistisch" erzählender Lyrik sondern eher im Bereich des Surrealen, womöglich auch im Bereich der alten Mythen, in denen - ähnlich wie heute im Comic - allerlei schwer verstümmelnde Ereignisse recht gut "weggesteckt" werden. Daneben ist das natürlich auch eine Metapher, die schlicht wörtlich genommen wurde: Thieß ist im Wortsinne eben offenherzig.

Ein bisschen näher gekommen, bin ich den diversen Rätseln dieses Gedichts dann in Z.10, denn hier fällt ein magischer Name (bzw. er fällt in verklausulierter Form): Constanza (gemeint ist Konstanza oder Constanţa) ist der Name einer alten rumänischen Stadt am Schwarzen Meer, die in der Antike als Tomis bekannt war - damals ein wüstes Nest am Rande der römischen Zivilisation. An diesen entfernten Ort wurde wegen seiner lockeren Gedichte und vielleicht auch einigen Insiderwissens über die Skandale der Kaiserfamilie der große Ovid verbannt.

Und so kommen wir dem rätselhaften Thieß etwas näher: Der österreichische Schriftsteller Ransmayr verfasste einen Roman über die Bewohner von Tomis und die Suche eines römischen Bewunderers des Ovid nach seinem verbannten Idol. In diesem Roman, der in der frühen römischen Kaiserzeit spielt, aber bewusste Anachronismen enthält, kommt ein deutscher (sic!) Ex-Soldat namens Thies vor (eine Anspielung auf den altrömischen Totengott Dis), dessen Rippen so unglücklich von einem Pferdehuf zertrümmert wurden, dass sie entfernt werden mussten, so dass fortan sein Herz "ungeschützt" in der Brust lag. Dieser Thies arbeitet jetzt als Totengräber (Hinweis auf den Totengott) und Salbenrüher. Letzteres dürfte sich in seinen Kenntnissen "der Kräuter Sprach" erklären.

Dass dieser Roman (dessen Rätselhaftigkeit diejenige dieses Gedichts noch übersteigt) Cypi besonders gefallen hat glaube ich gerne. Nicht zuletzt, weil in diesem Roman eine Figur vorkommt, die den schönen Namen... Cyparis... trägt. :)

Den anschließenden Schwenk zu Arthur Schnitzler, offenbar mit Anspielungen auf seine Tragikomödie "Weites Land" und seine Novelle "Sterben", kann ich nicht so ganz aufdröseln. Auch sonst bleibt einiges noch für mich unausgedeutet. Zum Beispiel, worauf das "gibt und wieder gibt" anspielt (der Totengott nimmt ja eher als zu geben - das Geben ist eher bei seiner Frau Proserpina zu verorten und so heißt übrigens auch in Ransmayrs Roman die Frau von Thies). Auch die "Schuppenfrau" ist mir nicht ganz klar - es klingt schwer nach einer der vielen Metamorphosen des Ovid, aber ganz sicher, welche hier gemeint sein könnte, bin ich nicht.

So bleibt also vieles noch Terra incognita in diesem Gedicht. Aber wenn man solches aushält, dann kann man unter Inkaufnahme der weißen Verständnisflecken, wie ich finde, großen Genuss aus diesem Text ziehen. Und vielleicht greift man danach noch einmal zu einer Ausgabe von Ovids Metamorphosen und schwelgt in der überbordenden Phantasie antiker Mythen.

LG!

S.