Hi gum!
Ein weiterer (sehr sehr lohnenswerter) Besuch meinerseits in den Keller-Archiven der Wiese.
Warum dieses wunderbare Gedicht wohl unkommentiert blieb? Stand hier nur der launische Zufall einem Echo entgegen?
Die höchst ansprechend geformten Zeilen legen dem Lesefluss doch wahrlich keine formalen Hindernisse in den Weg: Volkstümlicher Paarreim, ein - jedem Gedichteleser altvertrauter - vierhebiger Jambus und durchgängig männliche Kadenzen. Auch die Länge des Gedichts ist für heutige Lesebefindlichkeiten passgenau in der Wohlfühlzone gestaltet - nicht zu lang und nicht zu kurz.
Hier finden wir also eine Volksliedhaftigkeit im besten Sinne und - speaking of Sinn: Auch dieser ist durchsichtig gestaltet und bereitet keine raunig-verschlüsselten Probleme. Bereits der Titel gibt den Zeitpfeil und die Leserichtung vor: Eine Reise in die Vergangenheit, offensichtlich im Kopf des Lyrischen Ichs, da Zeitmaschinen zur Realisierung physischer Rückwärtsgewandtheit bis dato nicht manifest wurden (und das bisherige Ausbleiben greifbarer Besucher aus der Zukunft ist zumindest ein Indiz, das hier das letzte Wort gesprochen ist).
Was es nun genau mit dieser psychischen (oder sagen wir mal lieber: seelischen) Zeitreise besteht, was also das Reiseziel ist, davon spricht die letzte Strophe: Es ist die Erinnerung an einen fernen Kuss, an eine Jugendliebe höchstwahrscheinlich. Und diese Erinnerung überschattet die Gegenwart und bringt dem Lyrischen Ich nicht etwa Freude oder Trost, sondern ist eher von Trauer und Wehmut bestimmt - das deutet die zweite Strophe im Vorgriff bereits an ("ich sah mich an der Nähe wund") und die Conclusio besiegelt es ("... über meiner Seligkeit / lag schwerer die Vergangenheit... ").
Kein Happy End.
Ist das der Grund für das (betroffene) Schweigen der Leserschaft?
LG!
S.