Autor Thema: Lili (putt)  (Gelesen 809 mal)

Sufnus

Lili (putt)
« am: M?RZ 20, 2021, 11:57:06 »
Lili (putt)

Einfamilienparadiese:
Veggie-Spieß und Barbecue,
Himmelsklein, umzäunte Wiese:
Countdown, Enemenemu!

Wenn die letzte Hülle fällt,
mit dem FOMO-Finger drohen.
Vor der Liebe in die Welt,
vor der Welt ins Herz geflohen.



Erich Kykal

Re: Lili (putt)
« Antwort #1 am: M?RZ 20, 2021, 12:33:42 »
Hi Suf!

Toll! Vor allem die Conclusio, der letzte Satz. Die gesellschaftliche Verflachung und Betäubung durch Oberflächlichkeiten einerseits, die innere Vereinsamung und Isolation andererseits trefflich bedichtet. Der neue Biedermeier!
Auch das "Brav-Bürgerliche und Getreulich-Angepasste" kommt nicht zu kurz: Sehr schön erwähnt durch die Bilder in S1Z2 und 3.
"FOMO" musste ich erst nachschlagen, diese neumodischen Abkürzungen sind mit zuwider - derlei Sprachschlampereien sind die Schuld der Daddelgeneration: zu faul zum Tippen!

Nun, ich muss mich an der eigenen Nasenspitze nehmen: Ich, obschon gewahr der Degeneration, isoliere mich seit Dekaden mehr und mehr von der Welt, scheue tiefere Beziehungen wie der Teufel das Weihwasser und unterhalte mich in literarischen Fluchtwelten oder schaue Dokumentationen, Filme und Serien.
So gesehen kam Corona meinem Lebensstil sogar entgegen, weil man mich nun nicht mehr als seltsamen Einsiedler und Sonderling betrachtet, sondern als vorbildlichen Erfüller staatlicher Vorgaben mit offensichtlich unkorrumpierbarem sozialem Gewissen!  ;D >:D

Die "kleine Welt" - für viele eine Wunschvorstellung, vor allem, wenn sie auch noch "heil" sein darf. Aber ist es von Übel, sich das zu ersehnen? Betrachte es mal so: Ein ruhiger, stabiler Ort, wo man sich nicht vorsehen muss, wo man vertrauen kann, wo man ehrlich und respektvoll miteinander umgeht, Regeln einhält, die allen nutzen, und sein kann, was man ist, ohne dass jemand die Nase rümpft oder sich in Hasstiraden ergeht.
Wann wird der Mensch es wohl je schaffen, diese kleine Welt zu seiner großen auszudehnen, ohne Rassismus, Vorurteile, Hass, Kriminalität, Diktatoren und Unterdrücker, wirtschaftlich wie politisch? Wohl nie ...  :-[ :'(

Also braucht er diesen Fluchtpunkt, dieses Nestdenken, zumindest als Ausgangspunkt und sichere Basis. Sich ganz und gar dorthin zurückzuziehen, so wie ich zB., steht dem, der die Welt noch verändern und beeinflussen will, nicht gut an. Ich empfinde mich als alt und krank genug, um mich nicht mehr zu messen oder umtun zu müssen. Ein paar Gedichte zur Welt ab und zu, das soll genügen. Und im inneren Zirkel meines Daseins war es ohnehin immer metaphorisch gesprochen schlecht möbliert und kaum bewohnt ...

Sehr gern gelesen!  :)

LG, eKy

« Letzte Änderung: M?RZ 20, 2021, 15:05:27 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Lili (putt)
« Antwort #2 am: M?RZ 20, 2021, 14:42:04 »
Ganz lieben Dank, eKy, für die ausführlichen Reflexionen... da werd ich gern noch mehr zu schreiben.... grad mangelts etwas an Zeit... wird aber nachgereicht! :)
LG!
S.

Sufnus

Re: Lili (putt)
« Antwort #3 am: M?RZ 21, 2021, 18:14:27 »
... jetzt also noch ein paar Worte mehr zu Deinen Ausführungen! :)
Du hast ganz recht damit, dass mein Gedicht vordergründig eine Kritik darstellt an der Zurückgezogenheit in ein ganz privates Glück mit der für das individuelle Wohlbefinden durchaus problematischen Kehrseite - auch darauf weist Du sehr zurecht hin - dass dieser Rückzug auch mit einer Verflachung des Fühlens, Einengung des Denkens und letztlich Vereinsamung einhergehen kann (nicht muss, oder?).
Die rein kritische Stimme ist aber m. E. vor allem in Strophe 1 präsent, in Strophe 2 wird es etwas weniger eindeutig. Das in S1Z4 angebahnte Vergänglichkeitsmotiv verdichtet sich und wird in S2Z2 offiziell zu einem Droh-Gestus erklärt und bei der Zirkelflucht in S2Z3 und Z4 bleibt etwas unklar, ob sich hier womöglich ein Lebenskreis abrundend geschlossen hat oder im in der letzten Zeile angesprochenen Herz nur mehr die Einsamkeit wohnt. Jeder Leser kann hier, denke ich, zu einer für sich eindeutigen Lesart kommen, aber ganz festlegen will sich das Gedicht (so war jedenfalls mein Plan) dann doch nicht. Vielleicht ist es viel mehr Elegie als Anklage?
Vielen Dank jedenfalls für Deine Gedanken, eKy! :)
S.

Rocco

Re: Lili (putt)
« Antwort #4 am: M?RZ 21, 2021, 20:55:05 »
Guten Abend Sufnus,

Himmelsklein gefällt mir. Grenzen, auch Zäune, bedeuten Nähe, für die, die darin sind. Echte Nähe ist das aber nicht. Vielmehr eine Nähe, die zum Zwecke des Konsums, erschaffen wurden.

Insofern ist ein Rückzug möglich und notwendig (?)

Der Countdown verweist auf ein mögliches Ende. Möglich, weil man nicht fliehen und sich verstecken muss. Und man mehr will, als den kleinen Himmel. Das aber ist nur eine mögliche Utopie.

Das Herz wäre demnach der Ausgangspunkt eines Angriffs/ Ende der Flucht/Einkehr/Umdenken/Erneuerung.

Ein offenes Gedicht.

Einen schönen Abend

Rocco
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Sufnus

Re: Lili (putt)
« Antwort #5 am: M?RZ 28, 2021, 18:51:11 »
Hi Rocco!
Deine Reflexionen freuen mich sehr! Dankeschön! :)
Sehr spannend finde ich Deinen Hinweis, dass Grenzen bzw. Zäune immer notwendigerweise die Bedeutung von "Nähe" beinhalten - dieses Nähe aber eben durch den trennenden Aspekt nicht "echt" ist. :) Mir fällt die berühmte, sarkastische Zeile aus Robert Frosts Gedicht "Mending Wall" ein: "Good fences make good neighbors".... "Gute Zäune machen gute Nachbarn".
LG!
S.