Hi AL!
Bezüglich deiner letzten Hypothese habe ich meine Zweifel. Ich kenne natürlich den alten Spruch: "Wahre Kunst muss leiden.", vermute aber, dass er ursprünglich eher die Kunstfertigkeit eines langwierig und mühsam zu erlernenden Berufs meinen könnte. Da sind wir rasch beim Definitionsproblem: Was ist noch Handwerk und was ist schon Kunst?
Kunst ist eine Frage von Motivation und Talent, und während ich zustimme, dass die Motivation durchaus in Leid begründet sein mag, hüte ich mich vor einer Ausschließlichkeit in dieser Sache - es gibt auch andere gute Gründe, künstlerisch tätig sein zu wollen.
Und das Können, das Talent? Viele, die nie groß gelitten haben, vermochten allein aus Freude daran, es zu erproben, große Kunst zu schaffen, da bin ich sicher. Allzu leicht wäre es, ihnen "geheime" Leiden zu unterstellen, nur um ihre Kunst zu erklären und die Theorie so aufrecht zu erhalten. Es wäre reine Mutmaßung.
Ich denke: Vieles kann einen zum Künstler machen, und Leid ist da nur eine Möglichkeit. Jeder, der sich für einen Künstler hält, muss also selbst in sich hineinhorchen, wenn er wissen will, was seinen Drang beflügelt, und was er der Welt so dringend miteilen möchte. Oder ob es nur die reine Freude an der Schönheit dessen ist, worin er sich versucht - für mich nicht der schlechteste Grund.
Denn sicher haben vielleicht noch viel mehr andere, die durchaus über riesiges Talent verfügten, dieses nie kultiviert, raffiniert, oder überhaupt je genutzt - ja, haben es vielleicht nicht mal erkannt. Ich denke da zB an Portraitmaler oder Bildhauer in islamischen Ländern mit ihren rigiden Darstellungsverbot von Menschen (ich habe mich in diesem Zusammenhang immer gefragt, warum sie bei Fotografie und Film scheinbar nichts dagegen haben - vielleicht, weil dort Maschinen es tun?), die sich aus religiösem Tabu nie verwirklichen konnten, oder mangels Versuchs es sogar nie bemerkten, wozu sie hätten fähig sein können! Wie viele mögliche Michelangelos hat diese Steinzeitreligion wohl verhindert oder zerstört im Laufe der Jahrhunderte?
Denn es ist so: abgesehen vom Leid, oder was auch sonst immer der Auslöser für "Großes" sein mag, müssen die Verhältnisse passen, und es muss die Gelegenheit geben. Und dann vielleicht noch das Quentchen Extraglück, im richtigen Moment an der richtigen Stelle zu sein, um die richtigen Leute zu kennen oder zu beeindrucken.
Denn ich wage nicht zu bedenken, wie viele mögliche Genies im Lauf der Zeit still und lautlos im Gros der Menschenherde versickert sind, weil sich nie die Möglichkeit ergab, sie umfassend zu entdecken und zu würdigen, und sie selbst, introvertiert, bescheiden oder schüchtern, sich nie darum bemühten!
LG, eKy