Autor Thema: Frommer Wunsch  (Gelesen 1156 mal)

Erich Kykal

Frommer Wunsch
« am: Januar 29, 2021, 14:55:03 »
Ich wollt, ich wäre später erst geboren,
in einer Zukunft ohne Hass und Leid,
wo niemand nutzt, was andere verloren,
zum eignen Vorteil bei Gelegenheit.

Und niemand stürbe mehr in jenen Tagen,
ein frischer Leib ist ohne Müh bestellt!
Wer nichts zu fürchten hat, darf alles wagen,
so lang er keinen anderen verprellt.

Und alles wäre rechtens, wohl geschlichtet,
was Hader bergen könnte oder Neid;
auf alles, was uns schadet, wird verzichtet
aus freien Stücken, herzlich hilfsbereit.

Die Waffen wären nur noch in Museen
für ein Erschauern artig aufgereiht,
für alle zur Erinnerung zu sehen,
wie einst man irrte in der alten Zeit!

Und Kinder, die in jenen Tagen lernen,
beherzigen den wohlgemeinten Rat
und fassen darum weiser nach den Sternen
auf ihren Wegen zu Beweis und Tat.

Ich wollt, ich wäre später erst geboren,
wenn die Vernunft, von allem Trieb befreit,
bewusst gewählt sein wird und auserkoren
als jener Segen, der uns alle weiht.
« Letzte Änderung: M?RZ 30, 2021, 11:33:37 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Rocco

Re: Frommer Wunsch
« Antwort #1 am: Januar 29, 2021, 17:06:47 »
Hallo Erich,

nehmen wir an, du müsstest, ganz praktisch, darüber entscheiden, und hättest die Macht dazu, diese neue Welt einzurichten, wie würdest du das anstellen?

Mich erinnern deine Zeilen an Nietzsches Übermenschen, der ähnliche Ziele verfolgte. (Ich glaube, Nietzsche hat realistisch gesehen, wie man das machen könnte, auch wenn er vielleicht nicht alle Details durchdacht hat.) Zeitgenossen, wie Mao, haben auch so ein Konzept verfolgt und entsprechend gehandelt, siehe Kulturrevolution.

Du wirst einwenden, dass das mit deinem Gedicht null zu tun hat. Ja, das stimmt, aber dann sag bitte auch, wie sich dein Wunsch umsetzen lassen soll.

Je praktischer du werden würdest, desto mehr müsstest du ins Detail gehen. Ich vermute: am Ende wären wir bei Nietzsche und Mai.

Dich überrascht vielleicht, dass ich nicht von Hitler rede? Das kommt daher, dass Hitler Nietzsche nicht verstanden hat und auch mehr eigene Vorstellungen hatte, die er Nietzsche, absichtlich oder unabsichtlich, unterstellt hat.

Damit sage ich nichts über die sprachliche Qualität deines Gedichts! (Die ich gut finde.)

Ich bin einfach der Meinung, dass man Träume, auch die gut gemeinten, kritisch hinterfragen sollte. Letztlich waren Mao und Co. Idealisten, die es auch "nur" gut gemeint haben. Das ist kein Zynismus! Sie wollten Gutes tun und glaubten Opfer bringen zu müssen. Motto: Der Zweck heiligt die Mittel.

Einen schönen Abend

Rocco
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Erich Kykal

Re: Frommer Wunsch
« Antwort #2 am: Januar 29, 2021, 17:47:02 »
Hi Rocco!

Ich hätte das Gedicht auch "Naiver Wunsch" nennen können - natürlich ist mir klar, dass es kein Utopia geben kann, und dass es obendrein höchstwahrscheinlich todlangweilig wäre.

Geboren wurde das Werk aus der Idee, dass ich, wenn ich später geboren wäre, vielleicht dem Tod hätte entgehen können, weil irgendwann vielleicht das Geheimnis relativer Unsterblichkeit gelüftet worden sein könnte. Es gibt da in der Science Fiction einige diesbezüglich interessante Theorien.
Aber weil ich jetzt lebe - also quasi zu früh, um in den Genuss des wissenschaftlichen Fortschritts zu kommen - werde ich sterben, und all mein Genie wird damit der Welt verloren sein ... (Schön arrogant, was?  ;) ;D Scheiß auf die Welt und das - ohnehin eingebildete - Genie, alles moralische Fassade - ich will bloß nicht sterben müssen!  ::))

Das Gedicht ist also nur ein Sehnsuchtsding, eine Gedankenspielerei, die mich der leidigen Sterblichkeit kurzzeitig enthebt. Kein tieferer philosophischer Hintergrund war angedacht. Höchstens eine leichte Anklage an das Unvermögen der Menschheit, so einen Zustand auch nur annähernd je zu erreichen! Aber seien wir nicht undankbar! Im Vergleich zu Dürers Zeiten leben wir doch schon in einem Utopia, wie es sich die Leutchen damals nicht mal annähernd vorstellen konnten, geschlagen mit Seuchen, absoluten Willkürherrschern und deren Schergen, Aberglaube, Hexenverfolgung, Vergiftungen und unheilbaren Leiden, Medizin, deren höchste Kunst im sog. "Aderlass" bestand, ohne jede Sicherheit anklag- und verhaftbar, der Folter ausgeliefert, ohne Aussicht auf nennenswerte Karrieren, freie Bildung oder gar freie Meinungsäußerung!
Und ich rede hier schon vom gehobenen Bürgertum! Wie alle Ärmeren, "Niedrigeren" hungern, hausen, gehorchen und leiden mussten, wage ich mir nicht vorzustellen!

Zeigte man einem Mensch von damals die Welt, in der wir leben, er verstünde ums Verrecken nicht, worüber in aller Welt wir uns überhaupt beklagen könnten, und wie bodenlos undankbar das wäre: Fließend Wasser, Wasserklosett und Bad in jeder Wohnung, sauber und schimmelfrei. Zur Nacht elektrisches Licht in jedem Raum, Zentralheizung, Kühlschrank, moderne Küche, Waschmaschine, weiches Bettzeug, jede Menge Kleidung und Schuhe! Wahlrecht, Redefreiheit, Glaubensfreiheit, freie Berufswahl, Gleichheit, Menschenrechte, moderne Medizin, Versicherungen, und, und, und ...

Bleibt zu hoffen, dass es irgendwann vielleicht eine Zukunft geben könnte, in der zumindest Tod, Krieg, Krankheit, Hunger, Fanatismus usw. endlich überwunden sein könnten - eine Welt, dei uns aus heutiger Sicht so unglaublich erscheinen muss wie dem Menschen aus Dürers Zeit die unsere! Ein frommer Wunsch ...

LG, eKy

« Letzte Änderung: M?RZ 30, 2021, 11:37:49 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Rocco

Re: Frommer Wunsch
« Antwort #3 am: Januar 29, 2021, 21:15:48 »
Hallo Erich,

eine relative Unsterblichkeit hast du schon erreicht: Gedichte, wie du sie dichtest, kann nicht jeder. Ich vermute, deine Gedichte werden bleiben.

Was mich bewegt, ist die Frage, ob man, bei entsprechend langem Leben, überhaupt noch zu Erfahrungen fähig wäre, oder, ob man, nach einer gewissen Zeit, nach Tausend Jahren, seelisch abstumpfen würde, weil wir (Seele, Körper) nicht für die Ewigkeit gemacht sind? Stell dir vor, du könntest eine Million Jahre leben, aber die Nerven, Seele, würden nach Tausend Jahren ihren Geist aufgeben, wie eine Batterie. Was dann? Science Fiction ist gut und schön, nur: wie setzt man das um?

Ich vermute: Wir bräuchten einen anderen Körper, vielleicht, eine andere außermenschliche Daseinsform?

Darüber ließe sich weiter philosophieren.

Im Grunde pflichte ich dir bei: Aufklärung und Fortschritt bringen uns alle voran, daran sollten wir arbeiten.

Einen schönen Abend

Rocco
« Letzte Änderung: Januar 29, 2021, 21:27:29 von Rocco »
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Erich Kykal

Re: Frommer Wunsch
« Antwort #4 am: Januar 29, 2021, 23:59:39 »
Hi Rocco!

Der Überlegungen sind viele, indes, es ist müßig, sie endlos zu verfolgen. Letztlich kollidieren unsere Vorstellungswelten unausweichlich mit der harten Realität der Entropie. Wir enden. Ende. Was nach uns sein wird, irgendwann, irgendwo, irgendwie, betrifft uns nicht mehr. Unser Bewusstsein ist ausgelöscht, der Erfahrungsschatz all der Erinnerungen, Bilder und Gefühle, der uns definiert, unwiederbringlich verloren.
Ob etwas von uns bleibt, ist dann unerheblich - für uns.

Danke, dass du meinem Schaffen ein Bleiben prophezeihst, jedoch für wie lange? Wer liest und kennt heute noch alte mittelhochdeutsche Lyrik? Ein paar Spezialisten. Irgendwann wird alles zwangsweise verloren gehen, stell dir zB vor, diese wenigen stürben in einem neuen Krieg, einer Seuche, dem Verfall unserer Kulturen. Irgendwann werden, selbst bei noch so zähem Versuch der Bewahrung, diese Werke nur noch Hieroglyphen für die Nachgeborenen sein, oder nur noch Staub.

Das Prinzip des Bleibenden ist in einem Universum, in dem der Wandel und die Auslöschung die einzigen Konstanten sind, nur eine Illusion, ein anderer frommer Wunsch ...

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Frommer Wunsch
« Antwort #5 am: Februar 01, 2021, 13:50:25 »
ich denke, lieber Erich, so spät kann man gar n icht geboren werden, dass sich dieser Wunsch erfüllt. Wenn man die Veränderungen vom Mittelalter bis heute sieht, dann hat sich fast alles verändert. Die Abhängigkeit der Leibeigenen gibt es nicht mehr, die industrielle Revolution hat die Arbeitnehmer freier gemacht. Mao aber war ein Mörder, hat Millionen Menschen umbringen lassen, weil sie nicht spurten,um mal Roccos
Beispiel zu nehmen. Es ging ihm nur um Macht. Und so wird es weiter gehen. Eine Machtg wird nur durch eine andere ersetzt, solange bis es den anderen auffällt.
LG von Agneta

Erich Kykal

Re: Frommer Wunsch
« Antwort #6 am: Februar 01, 2021, 18:54:08 »
Hi Agneta!

Die Angst verbiegt den Menschen, macht ihn grausam und verhärtet, die Dummheit erweicht ihn, macht ihn folgsam und stumm, die Bosheit vergiftet ihn, macht ihn zynisch und gemein.

Schon spricht er von Heimattreue, völkischem Erbe und marschiert laut rassistische Parolen skandierend mit den Springerstiefelträgern ...
Oder er spricht von der Gnade seines Gottes, der ihm befiehlt, in seinem Namen mit seligem Lächeln zu morden und zu erobern ...
Oder er leugnet offensichtliche Realitäten wie Corona, handelt rücksichts- und verantwortungslos in seiner albernen Blasen-Überzeugtheit ...

Erneut: Kleine Geister ziehen kleine Kreise um sich, und laut Einstein, der fast immer Recht behalten hat, ist die menschliche Dummheit eine unendliche Größe ...

LG, eKy

« Letzte Änderung: Februar 01, 2021, 18:59:42 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.