Autor Thema: Kleine Versfußlehre... :)  (Gelesen 2893 mal)

Sufnus

Kleine Versfußlehre... :)
« am: Juni 11, 2020, 18:04:30 »
... gefunden!!! ....  ;D

Wusst ichs doch, dass es hier einen Bereich für die Verbreitung von Klugexkrementen gibt. Also wie weiter oben Ylva angekündigt, -boten oder -droht hier ein Einstieg in die Versfußlehre mit besonderem Fokus auf akzentuierende, gebundene Sprache (was das ist, kommt später). :)

Also es geht hier um die mehr oder reglmäßige Abfolge von Silben-"Betonungen" im Gedicht, insbesondere wenn es sich einer sogenannten gebundenen Sprache bedient. In dem Zusammenhang geistern dann die Bezeichnungen Jambus, Trochäus, Daktylus, Anapäst, Kretikus, Spondeus und wie sie nicht alle heißen durch die Runde, wobei vor allem die ersten vier genannten von besonderer Bedeutung sind.

Aber bevor wir uns hier hineinstürzen erstmal ein Blick auf die Silben-Betonung in normaler Alltagsrede. :)

In unserer Alltagssprache betonen wir auch einzelne Wörter oder Silben durch eine Vielzahl von "Hilfsmitteln", zum Beispiel, indem wir die Wörter, auf die es uns gerade ankommt, etwas lauter oder gedehnter sprechen oder durch untermalende Gesten und Gesichtsausdrücke der Aufmerksamkeit des Gegenübers anheimstellen. Und je nachdem auf welches Wörtchen in einem Satz es uns gerade ankommt, betonen wir recht flexibel und Kontext-abhängig mal das eine, mal das andere.

Nehmen wir den Satz: "Soso... das sagst Du mir jetzt?!".

Vielleicht wollen wir das "Du" besonders hervorheben, weil der Gegenüber womöglich nicht gerade in der Position ist, uns ungefragt seine Weisheit überzuhelfen (hoffentlich geht es dem Schreiber dieser Zeilen nicht gerade so!  :-[) Und vielleicht wollen wir auch noch das "das" unterstreichen, weil die Mitteilung besonders daneben ist:

Soso... DAAAAS sagst DUUUU mir jetzt?!"

Vielleicht wollen wir aber auch das "jetzt" betonen, weil die Mitteilung zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt erfolgt:

Soso... das sagst Du mir JETZT?!"

Die nicht hervorgehobenen Silben werden in diesem Beispiel in normaler Rede wahrscheinlich alle ziemlich ähnlich "stark" betont, zumindest fallen sie gegenüber den exponierten Wörtern nicht besonders ins Gewicht. Und offensichtlich folgt die Abfolge der Betonungen hier auch keiner sonderlichen Regelhaftigkeit, sondern ist ausschließlich dem kommunizierten Inhalt geschuldet. Wir sind also sehr frei, wie wir hier Silben oder Wörter betonen oder nicht betonen wollen und deshalb redet man hier von "ungebundener Sprache". :)

In "gebundener Sprache" muss man hingegen gewisse feste Regeln in der Abfolge von Betonten oder Unbetonten Silben einhalten und Verstöße gegen diese Regeln sind dann entweder Kunstfehler oder gerade künstlerisch besonders Wertvoll, je nachdem, ob der Autor bei dem Verstoß etwas Kluges im Sinn hatte oder nicht. ;)

Jetzt kommen wir also langsam in den Bereich der Metrik. Der Lehre von der "Komposition" betonter und unbetonter Silben in einem Vers. :)
Bevor wir da auf die einzelnen metrischen Grundelemente eingehen noch eine kleine Vorbemerkung: Oben habe ich ja schon erwähnt, dass wir in unserer normalen Sprache ganz unterschiedliche Mittel einsetzen, um Wörter oder Silben hervorzuheben und so dem Sprechen ggf. einen "Rhythmus" zu verleihen und Wichtiges von weniger Wichtigem zu trennen. In der Metrik engt sich das je nach betrachteter Sprache deutlich ein. Dabei haben wir Sprachen wie das Lateinische, die eher über die unterschiedliche Silbenlänge eine Struktur in der gebundenen Rede erzeugen (quantitierende Sprachen) und solche Sprachen, die eher über den "Akzent", also die "Verve", mit der eine Silbe gesprochen wird, eine Struktur erzeugen. Letzteres sind die akzentuierenden Sprachen, zu denen auch das Deutsche gehört.

... hier muss ich eine kleine Verschnaufpause einlegen, weil die Pflicht ruft... aber ich setze gerne fort... ;)






« Letzte Änderung: Oktober 28, 2020, 11:22:26 von Sufnus »

hans beislschmidt

Re: Kleine Versfußlehre... :)
« Antwort #1 am: Juni 11, 2020, 19:25:48 »
Gut gegeben Suf ...
Auch graphisch gut durchgestaltet, es fehlt nur noch der Audio Podcast ... ich scharre derweil mal mit den Hufen und warte auf die Fortsetzung ... Gruß vom Hans
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

Sufnus

Re: Kleine Versfußlehre... :)
« Antwort #2 am: Oktober 28, 2020, 13:14:02 »
... nach einer langen Kunstpause geht es jetzt weiter! ;)

Zunächst Faden nochmal aufnehmen:

Ich habe mich obig vom normalen Sprechen in ungebunder Rede zur sogenannten gebundenen Rede vorgearbeitet (wobei ich die "Bindung", d. h. das feste Regelwerk, dem sich die gebundene Sprache unterwirft, thematisch passend einmal auf den Aspekt der rhythmischen "Gebundenheit" einenge).

Also:
Normales Reden (und schreiben) = ungebunden = es gibt keine starre rhythmische Regel und die Wörter holpern fröhlich vor sich hin, wie es ihnen gefällt.
Gebundene Sprache = es gibt eine feste rhythmische Regel, nach der sich betonte und unbetonte Silben in einer definierten Reihenfolge abwechseln.

Der Rhythmus einer (gebundenen) Gedichtzeile wird dabei durch kleine Grundbausteine definiert, die man als das Metrum einer Zeile bezeichnet. Ein sogenanntes Metrum setzt sich wiederum aus einem oder zwei Versfüßen zusammen. Der Versfuß ist also die kleinste Baueinheit einer Gedichtzeile.

Fünf Versfüße sind im Deutschen vor allem wichtig, nämlich der Jambus (das ist im Deutschen der allerwichtigste Vertreter), der Trochäus, der Daktylus, der Anapäst und der Amphibrachys.
Etwas weniger wichtig ist der Kretikus und ein völliger Exot im Deutschen ist der Spondeus.
Es gibt durchaus noch ein paar mehr Versfüße, aber mit den 5 plus 2 soll es mal genügen. ;)

Die Betonungen dieser Versfüße sehen so aus (in Klammern jeweils ein paar Wortbeispiele, die diese Regel mehr oder weniger befolgen):

Jambus: unbetont - betont (Aspekt, Gewalt, umsonst)
Trochäus: betont - unbetont (Klingel, Wunde, Rabe)
Daktylus: betont - unbetont - unbetont (Daktylus, Mehlschwitze, Grabungen)
Anapäst: unbetont - unbetont - betont (Anapäst, Ratatouille, Akribie)
Amphibrachys: unbetont - betont - unbetont (Radieschen, Krawalle, Versammlung)
Kretikus: betont - unbetont - betont (Liebesschwur, Rhapsodie, Sakrament)
Spondeus: betont - betont (Pechschwarz, halbschwer, todwund)

Wem das beim Lesen nicht so gleich einleuchtet, der kann ja einfach mal versuchen, eines der aufgeführten Wörter "falsch" zu betonen, dann merkt man, finde ich, am besten, wie es "richtig" klingen muss.
Also versucht mal, das Wort "Gewalt" als Trochäus zu betonen, d. h. auf der ersten Silbe. Klingt irgendwie schräg. Oder das Wort "Klingel" auf der zweiten Silbe betonen - das hört sich nach einem Franzosen an, der seine ersten Gehschritte im Deutschen absolviert. Oder versucht mal Radieschen als Kretikus zu lesen, dann klingt es plötzlich irgendwie schwer nach russischem Akzent usw. :)

Zu alldem muss man nun sagen, dass diese Versfüße von den Griechen und Römern "erfunden" wurden (die Namen deuten es an), die ein ganz anderes metrisches Prinzip (nämliche die quantitierende Sprache, siehe 1. Beitrag) realisierten. Die Übertragung dieser Versfüße auf die akzentuierende deutsche Sprache ist durchaus nicht ganz unproblematisch.

Und manches funktioniert im Deutschen einfach nicht gescheit - namentlich der Kretikus und ganz besonders der Spondeus.
Das liegt daran, dass im Deutschen zwei direkt aufeinander folgende betonte Silben eigentlich nicht vorgesehen sind. In meinen Beispielen für einen Spondeus könnt ihr sehen, dass zwar die beiden Silben schon irgendwie beide recht stark betont sind, aber eine hat, je nachdem wie man es nun ausspricht, jeweils  den Hut als Hauptbetonung auf.

Wenn im Deutschen zwei Silben exakt gleich stark betont werden, muss man eigentlich eine Sprechpause zwischen diesen Silben einlegen und man redet hier von einem Hebungsprall. Diese erzwungene Sprechpause ist natürlich für einen gleichmäßigen rhythmischen Fluss der Super-GAU und deshalb spielt der Spondeus praktisch keine Rolle. Und beim Kretikus stößt man auf das gleiche Problem, sobald man mehrere "Kretikusse" hinter einander abspult, kommt es ja unweigerlich zum Hebungsprall: betont - unbetont - betont  - betont - unbetont - betont. Da ists schon passiert, zwischen dritter Silbe (letzte Silbe vom ersten Kretikus) und vierter Silbe (erste Silbe vom zweiten Kretikus) kommt es zur Zungenverknotung durch schweren Fall von Hebungsprall.
Natürlich kann man aus diesen Schwierigkeiten auch einen Sport machen und gradzumtrotz versuchen, spondeische oder kretikussische Gedichte zu schreiben. Viel Spaß dabei! :)

Neben dem schrecklichen Hebungsprall ist übrigens auch der (weniger schreckliche) Senkungsprall zu erwähnen. Das meint, wenn zwei unbetonte Silben auf einander folgen. Beim Anapäst und beim Daktylus ist das ja schon im Versfuß vorgesehen. Und wenn sich zwei "Amphibrachysse" hinter einander gesellen, gibt es ebenfalls zwei unbetonte Silben nach einander. Ist im Prinzip nicht schlimm, führt aber dazu, dass die deutsche Zunge sich danach umsomehr nach einer gescheiten betonten Silbe sehnt. Zwei unbetonte Silben nach einander erzeugen also eine gehörige rhythmische Spannung und setzen den Sprecher ganz schön unter Zugzwang. Was im Deutschen nämlich gar nicht so gut kommt, sind drei unbetonte Silben in Folge. Bei Griechen und Römern wäre das kein Problem und nennt sich Tribrachys, aber im schönen Germanien ist das rhythmisch eine gewagte Geschichte. Auch hier gilt: Wer sich herausgefordert fühlt, der versuche sein Glück! :)

Jetzt ist das soweit schonmal schön und gut. Aber wie finden nun Wörter in diesem System von zwei- und dreisilbigen Versfüßen ein zuhause, die nur aus einer Silbe bestehen oder die aus mehr als drei Silben zusammengesetzt sind? Nun, da muss man eben zwischen dem Versfuß und dem Wortfuß unterscheiden. Ein Versfuß muss sich keineswegs an Wortgrenzen halten.

Hier mal ein Satz mit einem sechssilbigen, einem einsilbigen und einem zweisilbigen Wort:

(1) Versammlungsverbote sind ätzend.

Diesen Satz kann man rhythmisch als drei Amphibrachien auffassen, wobei das erste Wort aus zwei Amphibrachien besteht und der dritte Amphibrachys sich dann auf zwei Wörter aufteilt. Hier fallen also Wort- und Versfüße nicht zusammen.

Hier nochmal ein Beispielsatz aus drei Amphibrachien, diesmal fallen aber die Vers- und Wortfüße zusammen. Jedes Wort ist dreisilbig und besteht genau aus einem Amphibrachys:

(2) Poeten verachten Verbote.

Der zweite Beispielsatz klingt, vor allem wenn er sehr betont gelesen wird, ziemlich gravitätisch und rhythmisch sehr fest gefügt, vielleicht sogar ein bisschen steif. Der erste Beispielsatz hingegen liest sich beinahe wie ein normales, ungebundenes Sprechen, er wirkt dadurch nicht ganz so eindringlich, aber recht beweglich und natürlich.
Grundsätzlich wird empfohlen, beim Schreiben in gebundener Sprache darauf zu achten, dass die Versfüße nicht allzu eng mit den Wortfüßen zusammenfallen. Wenn man so etwas wie den Beispielsatz 2 nicht nur in einer Zeile fabriziert, sondern eine ganze Strophe oder gar ein ganzes Gedicht lang die Wort- und Versfüße zusammenfallen lässt, klingt es sehr schnell total mechanisch und wirkt dadurch im doppelten Wortsinn komisch. Man spricht bei zu großer Übereinstimmung von Wort- und Versfüßen von "klappernden Versfüßen".
Weil das Deutsche meist auf der ersten Silbe betont, ist diese Gefahr des "Klapperns" besonders groß, wenn man als Versfuß einen Trochäus verwendet und hauptsächlich mit zweisilbigen Wörtern operiert. Das sollte man wirklich nur tun, wenn man absichtlich etwas Lustiges schreiben will, keinesfalls wäre so ein "Geklapper" empfehlenswert, wenn man etwas Ernsthaftes zum Besten geben möchte.

Und jetzt gibts erstmal nochmal eine Pinkel- und Zigarettenpause für das erschöpfte Publikum. :)


« Letzte Änderung: November 27, 2020, 14:40:55 von Sufnus »

Sufnus

Re: Kleine Versfußlehre... :)
« Antwort #3 am: Oktober 29, 2020, 12:55:11 »
Und Fortsetzung... :)

Nachdem beim letzten Mal die gängigen Versfüße vorgestellt wurden, ist jetzt zunächst mal der Punkt, etwas zur Notation von Betonungen einzustreuen.

Eine tastaturmäßig einfache Möglichkeit der Notation ist das X-en, das hier im Forum auch üblicherweise praktiziert wird:
Eine betonte Silbe wird dabei durch ein großes X, eine unbetonte durch ein kleines x dargestellt.

Also:
Jambus = xX
Trochäus = Xx
Daktylus = Xxx
usw.

Für lateinische oder griechische Gedichte würde ich diese Notation nicht so empfehlen, weil hier ja eher die Silbenlänge Kriterium der Betonung ist und weniger die "Vehemenz" (vereinfacht: Lautstärke) der Aussprache wie im Deutschen. Wobei man an dem Punkt darauf hinweisen muss, dass es im Griechischen und Lateinischen auch nicht nur auf die per Stoppuhr kontrollierbare Länge der Silbe ankommt, sondern auch der Klang und die Konsonantenstruktur in einer Silbe relevant sind, um zu entscheiden, ob die Silbe "betont" ist oder nicht.
Sei es wie es sei, für die antike Poesie bietet sich eher folgendes Notationsschema an:
Jambus = U‾
Trochäus = ‾U
Daktylus = ‾UU
usw.

Wenn es bei Euch lesbar rauskommt, stünde hier ein langer hochgestellter Strich für die lange (betonte) Silbe und ein U für die kurze (unbetonte) Silbe.

Ein X gibt es bei den Römern und Griechen aber auch, das steht für eine Silbe, deren Betonung dem Autor freigestellt ist. Das ist insofern wichtig, als bei den antiken Lyrikern die metrischen Regeln weitaus komplexer waren als sie es bei uns tumben Teutonen heute sind - aber das soll uns jetzt erstmal nicht so furchtbar interessieren... also zurück zum deutschen X... ;)

In der letzten Lektion haben wir besprochen, dass man einen Versfuß auf mehrere Wörter verteilen oder umgekehrt aus mehreren Wörtern einen Versfuß basteln kann. Wir könnten also theoretisch z. B. sechs Jamben über vier dreisilbige Wörter verteilen usw.

Hier mal eine mehr oder weniger sinnlose Zeile in Jamben, die lustig über die Wortgrenzen hinwegziehen - die betonten Silben habe ich mal fett gedruckt und dann die X-e einmal so verteilt, wie sie in einem Wort zusammengehören und einmal so, dass man den Jambus erkennen kann. Man sieht auch, dass am Schluss noch eine unbetonte Silbe "übrig bleibt", die sich dem Schema entzieht.

Verehrte Majestät! Gestattet, gnädiglich, Euch lobend zu besingen!
xXx XxX! xXx XxX, x Xx X xXx.
xX xX xX xX xX xX xX xX xX x

Ich hoffe, an dem Beispiel erkennt man zunächst, dass es einen Unterschied gibt zwischen Wortfuß (z. B. "Verehrte" = xXx) und Versfuß, d.h. im Beispiel dem über alle Silben hinwegziehdenden Jambus.
 
Jetzt könnte man aber natürlich einwenden, dass die Deutung des Versfußes als durchgängiger Jambus (xX) nicht zwingend ist.

Stattdessen könnte man ja - Vorschlag 2 - auch sagen, die Zeile besteht aus einer zweimaligen Abfolge von Amphibrachys (xXx) und Kretikus (XxX) und dann kommt eine unklare Silbe (x), dann ein Trochäus (Xx), dann wieder eine unklare Silbe (X) und dann wieder ein Amphibrachys (xXx). Mit so einer Lesart würde ich sozusagen den Wortfüßen treu bleiben. Allerdings muss wohl jeder zugeben, dass eine - die Wortgrenzen sprengende - Deutung als durchgängiger Jambus eine deutlich einfachere Beschreibung liefert als die Zusammenstückelung aus drei verschiedenen Versfüßen (Amphibrachys, Kretikus und Trochäus) plus Kapitulation vor den zwei einsilbigen Wörtchen.

Ein Kompromiss - Vorschlag 3 - wäre es, wenn man sagt: In der Zeile wechseln sich Amphibrachys und Kretikus durchgängig ab. Auch hier bleibt dann am Schluss eine unbetonte Silbe übrig. Dann würde ich bei den ersten vier Wörtern dem Wortfuß treu bleiben ("Verehrte Majestät! Gestattet gnädiglich," = xXx XxX xXx XxX) und erst ab dem einsilbigen Wörtchen "Euch" muss man dann bei den Amphibrachien und Kretiki anfangen zu stückeln ("Euch lobend" = Amphibrachys = xXx; "zu besing" = Kretikus; "en" unbetonte Silbe = bleibt übrig).

Diese alternative Deutung ist schon besser als das wilde Stückwerk von Vorschlag 2, aber immer noch nicht so elegant wie die Jambus-Deutung, weil ich zwei verschiedene Versfüße bemühen muss, um den Rhythmus zu beschreiben.

Summasummarum bleibt hier also am Ende wohl als sinnigste Deutung der Jambus übrig.

ABER: Wir halten schon mal fest, dass es durchaus nicht immer ganz so trivial ist, zu bestimmen, welcher Versfuß in einer Zeile verwendet wird.
Wir kommen im Verlauf noch zu vertrackteren Beispielen ;)

Außerdem ist noch auf diese vermaledeite "übrig bleibende" Silbe näher einzugehen, die sich sowohl beim Jambus als auch beim gemischten Amphibrachys-Kretikus manifestiert hat....

Das beim nächsten Mal... jetzt erstmal: Durchschnaufen! :)
« Letzte Änderung: Oktober 29, 2020, 13:08:31 von Sufnus »

Sufnus

Re: Kleine Versfußlehre... :)
« Antwort #4 am: November 27, 2020, 14:04:10 »
Es geht weiter...  :)

Beim letzten Mal habe ich die „Xer-Notation“ besprochen. Außerdem nochmal Vers- und Wortfüße gegen einander abgegrenzt und anhand von einem Beispiel gezeigt, wie man die Abfolge von betonten und unbetonten Silben in einem Vers mittels Versfüßen beschreibt.
Dabei sind wir auf das Problem von "überzähligen" Silben am Ende eines Verses gestoßen. Dazu kommen wir gleich nochmal.

Zunächst aber dies:

Wenn wir zum Beispiel einen Jambus als Versfuß verwenden (xX), dann ergibt sich aus einer Reihe von hintereinander geschalteten Jamben (xXxXxXxX usw.) das Metrum einer Gedichtzeile.
Die Anzahl der Jamben (oder aller anderen Versfüße) wird dabei demjenigen, den's interessiert, mitgeteilt, indem man angibt, wie viele betonte Silben in der Zeile stehen. Man bezeichnet diese betonten Silben auch als "Hebungen"

Beispiel:

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
in allen Lüften hallt es wie Geschrei.

Wenn wir über diese beiden Zeilen aus van Hoddis' expressionistischem Gedicht „Weltende“ einen Jambus (xX) als Versfuß legen sieht das so aus:

1. Nach Wortgrenzen aufgeteilt:
x Xx X x Xx X x X
x Xx Xx X x X xX

2. Durchgängig geschrieben:
xXxXxXxXxX
xXxXxXxXxX

3. Nach Versfüßen aufgeteilt:
xX xX xX xX xX
xX xX xX xX xX

Und wenn wir jetzt mitteilen wollen, wie viele Jamben in jeder Zeile verwendet wurden (es waren, wie man unter 3. nachzählen kann jeweils fünf Stück), dann sagen wir:

van Hoddis hat in diesem Gedicht einen fünfhebigen Jambus verwendet.

Auch hier könnte man natürlich (ähnlich wie bei der letzten Lektion weiter oben) auch versuchen, andere Versfüße über die Zeilen zu legen.
Man könnte z. B. sagen:
Van Hoddis hat einen Amphibrachys, gefolgt von einem Kretikus, gefolgt von einem Amphibrachy, gefolgt von einer "übrig bleibenden" betonten Silbe verwendet:

xXx XxX xXx X

Das ist formal irgendwie nicht ganz falsch, aber eine furchtbar umständliche Beschreibung und deshalb gäb es vom verwirrten Deutschlehrer hierfür ein dickes rotes F für Föllig Ferkehrt. ;)

So weit so gut.

Aber was machen wir jetzt, wenn eine Zeile im großen und ganzen als Jambus daherkommt, aber aus einer ungeraden Anzahl an Silben besteht?

Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen,

Beide Zeilen bestehen aus 7 Silben.
Wenn wir - nach Wörtern aufgeteilt - unsere X und x setzen, sieht das so aus:

x X x XxXx
x Xx Xx Xx

Daraus können wir uns einen Jambus basteln, aber dabei bleibt am Schluss eine Silbe übrig:

xX xX xX x
xX xX xX x

Dieses Problem, dass wir eine Silbe nicht "unterbekommen", ist total häufig, weil die im Deutschen hauptsächlich verwendeten Versfüße entweder ein Vielfaches von zwei Silben "sauber" abdecken, nämlich der Jambus (xX) und der Trochäus (Xx) oder ein Vielfaches von drei Silben, nämlich der Daktylus (Xxx), der Anapäst (xxX) und der Amphibrachys (xXx). Eine Zeile mit 5, 7 oder 11 Silben (usw.) wird sich also nicht komplett mit einem Versfuß beschreiben lassen.
Kann (und muss) man nicht ändern und ist auch im Prinzip kein Problem. :) Aber man will dem Kind natürlich einen Namen geben und der ist so wunderbar kompliziert, dass wir ihn uns auf der Zunge zergehen lassen wollen!

Wenn man eine "überzählige" Silbe am Schluss hat, spricht man von einer Hyperkatalexe, was ich ziemlich beeindruckend finde.  8) Das zugehörige Adjektiv ist hyperkatalektisch.
Bei obigen zwei Zeilen von Claudius' schönem Mondgedicht handelt es sich also (vorsicht, anschnallen!) um:

Dreihebige, hyperkatalektische Jamben.

Nochmal ein anderes Beispiel zur Vertiefung:

Das Fräulein stand am Meere
und seufzte lang und bang.
Es rührte sie so sehre
der Sonnenuntergang.

xXxXxXx
xXxXxX
xXxXxXx
xXxXxX

Hier haben wir es mit durchgängig dreihebigen Jamben zu tun, die abwechselnd hyperkatalektisch (Zeile 1 und 3) und akatalektisch sind.
Damit haben wir ein neues Klugschei-ups-Wort gelernt, akatalektisch, das einfach bedeutet, dass keine Silbe "übrig bleibt", wir also einen vollständig ans Ende durchlaufenden Versfuß haben. :) Das muss man bei einer Beschreibung eigentlich nicht  extra dazu sagen, aber es klingt natürlich ganz schön beeindruckend.
So viel zu den Fällen, in denen wir für unseren Versfuß eine Silbe zu viel haben und damit eine Hyperkatalexie auftritt.

Es gibt natürlich auch den gegenteiligen Fall, nämlich, dass wir am Versende Silben zu wenig „übrig haben“.
Ganz besonders leicht tritt das bei den Versfüßen auf, die aus drei Silben gebildet werden (z. B. Daktylus, Anapäst und Amphibrachys), wenn wir eine Zeile mit 5, 8 oder 11 Silben haben und deshalb eine Silbe für eine durch drei teilbare Zahl fehlt.

Ein ad hoc „gedichtetes“ Beispiel ohne literarischen Anspruch:

Schlagsahne füllt mir den Magen,
füllt mich mit großem Behagen.

Nochmal nach Wortfüßen ge-ixt:

Xxx X x x Xx
X x x Xx xXx

Und als Dakylus notiert:

Xxx Xxx Xx
Xxx Xxx Xx

Hier fehlt jeweils am Ende eine Silbe, um einen vollständigen Daktylus zu ergeben. Man könnte die letzten zwei Silben also als Trochäus auffassen, aber dann hätte man wieder so ein umständliches Versfußmischmasch. Einfacher wäre es zu sagen: „Drei Daktylen, aber bei einem fehlt eine Silbe“ und auf schlau heißt das dann:

Dreihebige katalektische Daktylen.

Wir haben also gelernt:

- Katalexe, katalektisch: Am Ende des Verses fehlt eine (oder mehr!) Silben.
- Akatalexe, akatalektisch: Hier fehlt nix und es gibt auch keinen Überschuss… alles gut… gehen Sie bitte weiter!
- Hyperkatalexe, hyperkatalektisch: Am Ende des Verses gibt es eine Silbe zu viel.

Das nächste Mal lassen wir den metrischen Blick vom Vers-Ende an den Vers-Anfang schweifen und beschäftigen uns mit dem Auftakt, einem etwas peinlichen Kapitel der Metrik, weil es uns unser schönes Versfußgebäude gehörig in Unordnung bringen wird…





« Letzte Änderung: Dezember 01, 2020, 10:40:08 von Sufnus »

hans beislschmidt

Re: Kleine Versfußlehre... :)
« Antwort #5 am: Februar 02, 2021, 10:13:55 »
Zwischenruf
Ich finde die Hyperkatalexe ... satirisch, auch berlinerisch oder täusche ich mich?
Zitat
  Das Fräulein stand am Meere
und seufzte lang und bang.
Es rührte sie so sehre
der Sonnenuntergang.
Ist das deutsch?
LG Hans
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

Sufnus

Re: Kleine Versfußlehre... :)
« Antwort #6 am: Februar 02, 2021, 10:30:29 »
Hi Hans!

Lieben Dank für den Zwischenruf! :D Zugleich eine sanfte Erinnerung, dass ich mich langsam mal dem Problem des Auftakts widmen sollten, den ich schon so vollmundig angekündigt habe...

Aber Dein Nachsetzen hat mir zuvor noch ein Aha-Erlebnis spendiert: Tatsächlich ist ja bei Heines Beispiel:

Das Fräulein stand am Meere
und seufzte lang und bang.
Es rührte sie so sehre
der Sonnenuntergang.

die Hyperkatalexe in den Zeilen 1 und 3 sprachlich gesehen eigentlich "unnötig", denn die "normalen" Wörter "Meer" und "sehr" hätten ja zu einem akatalektischen Jambus ohne überzählige Silbe geführt. Das Dativ-e hinter "Meer"  wäre auch zu Heines Zeit nicht zwingend gewesen und "sehre" ist tatsächlich eher ein "reimgeschuldet" rüberkommendes Kunst-Wörtchen. Also hast Du vollkommen recht mit Deinem Hinweis, Hans, hier ist ein satirischer Blick am Start, in einem "ernsthaften" Gedicht sollte man so eher nicht dichten und das gilt auch schon für Heines Zeit. :)

LG!

S.