Autor Thema: Gossenkind  (Gelesen 1183 mal)

Erich Kykal

Gossenkind
« am: Januar 02, 2021, 12:15:55 »
Bin dreizehn, männlich, eher klein,
und nicht daheim zu Hause.
Die Mutter säuft, der Vater schlägt
und macht dabei kaum Pause.

Ich nächtige im U-Bahnschacht
und in der Bahnhofshalle,
und kenne keinen, der mich fragt,
und kenn sie dennoch alle.

Und was sie wollen, mache ich
für etwas Geld zum Essen
und eine Tüte dann und wann,
um all das zu vergessen.

Ist's richtig kalt, dann geh ich auch
nach Hause mit dem Freier
für eine Nacht im warmen Bett,
und kraule ihm die Eier,

und halt ihm hin das Hinterteil,
dass er sich dran vergehe,
und werde manchmal selber geil,
auch wenn ich's kaum verstehe.

Bin dreizehn, männlich, eher klein,
und nie bei mir zu Hause,
und keiner fragt, was aus mir wird,
und ob's mir davor grause.
« Letzte Änderung: M?RZ 30, 2021, 11:49:32 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Gossenkind
« Antwort #1 am: Januar 02, 2021, 13:22:18 »
Lieber Erich,

ein trauriges Dasein schilderst du angemessen in der einfachen Form und Sprache. Wo keine Liebe ist, verkrüppelt das wachsende Leben. Und aus dem Grausen vor sich selbst entspringt oft als Ziel: Wenn schon verächtlich, dann wenigstens der darin der Superlativ.

Sehr gern gelesen.
Gruß von gummibaum

 

 

 

« Letzte Änderung: Januar 02, 2021, 14:48:07 von gummibaum »

AlteLyrikerin

Re: Gossenkind
« Antwort #2 am: Januar 02, 2021, 13:46:19 »
Hallo Erich,
[size=78%]ein wahrhaft hartes Leben führt das LyrIch Deiner Verse. Als Ursache wird ein "Elternhaus" genannt, das kaum so zu nennen ist. Aber das Leben junger Menschen auf dem Straßenstrich interessiert niemanden, schreibst Du.[/size]
Es gibt schon helfende Organisationen. Ob sie ausreichend präsent sind, kann ich nicht beurteilen.
Eigene Erfahrungen mit einer drogensüchtigen Nichte, die aus einer therapeutischen Erziehungseinrichtung offensichtlich nichts Positives mitnehmen konnte, und ein Leben im Punkermilieu auf den Straßen Berlins vorgezogen hatte, sobald sie 18 Jahre alt geworden war, haben mir klar gemacht, dass es bei Menschen eine Therapieresistenz geben kann, die es extrem schwer macht ihnen zu helfen.
Dein Gedicht rückt den Fokus auf eine Problematik und eine Gruppe gefährdeter Menschen, die trotz aller Misserfolge nie aufgegeben werden dürfen. Das müssen wir immer wieder gesellschaftlich einfordern, aber auch eingestehen, dass es Menschen gibt, denen im bürgerlichen Sinne nicht mehr zu helfen ist. In einem reichen Land wie dem unseren sollten dennoch Wege ausprobiert werden, wie auch solche Menschen unter uns leben können.
Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

Erich Kykal

Re: Gossenkind
« Antwort #3 am: Januar 02, 2021, 17:31:31 »
Hi Gum, AL!

Hier war ich inspiriert von dem gleichnamigen Film, den ich vor etlichen Jahren sah, und der mir anlässlich einer Fernsehdoku über obdachlose Jugendliche in Osteuropa wieder zu Bewusstsein stieg.
Auch denke ich da an das Buch und den Film "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo".

LG, eKy
« Letzte Änderung: Juli 29, 2021, 09:49:48 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

hans beislschmidt

Re: Gossenkind
« Antwort #4 am: Januar 03, 2021, 09:22:46 »
Mein lieber Erich,
puh .... schwieriges Thema.
Gut, dass du auf klare Sprache gesetzt hast.
Störend fand ich deshalb "mich zu entheben", denn das kommt gegenüber dem brachialen "Eier kraulen" deplaziert, weil sprachverbrämt vor.
Gern gelesen. Gruß vom Hans
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

Erich Kykal

Re: Gossenkind
« Antwort #5 am: Januar 03, 2021, 13:47:28 »
Hi Hans!

Ich gebe dir Recht, aber ein anderer passender Reim zu "Leben" wollte mir nicht einfallen.
Ich denke nochmal drüber nach, wie man das prosaischer formulieren könnte.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

hans beislschmidt

Re: Gossenkind
« Antwort #6 am: Januar 03, 2021, 15:35:22 »
Hi Erich,
stimmt, leben bietet keine naturalistische Lösung.
Also umstellen ...???
Und was sie wollen, mache ich
für Geld, auch ich muss essen
und eine Tüte dann und wann,
um manchmal zu vergessen.

Das Werke wäre (m.M.) auch dichter ohne V5 und V6 und hätte mit V4Z4 einen knalligen Kontrapunkt.
Gruß vom Hans
« Letzte Änderung: Januar 03, 2021, 15:48:04 von hans beislschmidt »
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

Erich Kykal

Re: Gossenkind
« Antwort #7 am: Januar 03, 2021, 15:53:24 »
Hi Hans!

Vielen Dank für den Vorschlag - habe ihn gern etwas verändert übernommen.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Gossenkind
« Antwort #8 am: Januar 06, 2021, 14:46:33 »
Hi eKy!
Dann falle ich nun auch - etwas verspätet - ins Lob ein. Bei Gedichten, die solches Elend schildern, tue ich mir immer etwas schwerer mit der Analyse. Nunja... man muss auch nicht alles bis in die letzten Bestandteile analysieren... :)
LG!
S.

Erich Kykal

Re: Gossenkind
« Antwort #9 am: Januar 06, 2021, 19:50:53 »
Hi Suf!

Ja, es ist weder leicht, dazu zu dichten, noch, es würdig zu kommentieren, dem traurigen Inhalt angemessen ...

Danke, dass du es dennoch gewagt hast - und du hast durchaus eine gute Figur dabei gemacht.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.