Autor Thema: Atheistisches Credo III  (Gelesen 922 mal)

Sufnus

Atheistisches Credo III
« am: Dezember 15, 2020, 09:06:37 »
Atheistisches Credo III

Im Kindsein hat Gott mich zum Engel geglaubt,
dann wurde er dafür zu alt.
Und ich, seines Hoffens und Glaubens beraubt,
erwachte zur Menschengestalt.

Und Gott wurde sterblich in meinem Geist,
und ich wurde schön, was das gleiche verheißt,
und die Welt blieb die Welt ins Dunkle gestellt:
Ein Hund, der aus Albträumen Mondnächte bellt.

Und die Welt ist, was fällt, auch sternenbestaubt,
und Gebet ist, was gläubig verhallt.
Im Kindsein hat Gott mich zum Engel geglaubt,
dann wurde er dafür zu alt.






AlteLyrikerin

Re: Atheistisches Credo III
« Antwort #1 am: Dezember 15, 2020, 12:20:59 »
Lieber Sufnus,


sehr schön, Deine Verse. Aber bist Du eigentlich sicher, dass sie nicht in Wahrheit ein ganz tiefes Gebet sind? Wollte Dir mit dieser Bemerkung nicht zu nahe treten. Sie beschreibt einfach die Wirkung Deiner Verse auf mich.


Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

Sufnus

Re: Atheistisches Credo III
« Antwort #2 am: Dezember 15, 2020, 17:51:57 »
Hi AL!
Iwo! Du trittst mir doch mit der schönen Bemerkung nicht zu nahe (und dem LI auch nicht, denke ich mal :) )... tja... ob es ein Gebet ist... immerhin wird Gott beinahe angesprochen... nur beinahe, aber weit simmer nicht davon weg. Zumindest scheint dieser Atheist (nicht verwandt, verschwägert oder identisch mit dem Autor) mal an Gott geglaubt zu haben. Wobei... wörtlich steht ja nur da, dass er "von Gott geglaubt (wurde)" (grammatisch eine kühne Wendung - ich weiß ;) )... ob es umgekehrt auch so war... wer weiß? :)
LG!
S.

Erich Kykal

Re: Atheistisches Credo III
« Antwort #3 am: Dezember 15, 2020, 18:20:22 »
Hi Suf!

Ich darf Rilke zitieren (aus "Engellieder"):

Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.

Da hab ich ihm seine Himmel gegeben, -
und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;
er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt.


Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht,
kann er frei seine Flügel entfalten
und die Stille der Sterne durchspalten, -
denn er muss meiner einsamen Nacht
nicht mehr die ängstlichen Hände halten -
seit mich mein Engel nicht mehr bewacht.



Dein vergleichbar schönes Gedicht hat mich gleich an dieses frühe Werk von Rilke erinnert, und ich suchte es sofort heraus!

Ich versteige mich sogar zu der Annahme, du könntest von exakt diesem Werk inspiriert worden sein, denn sowohl inhaltlich wie stilistisch sind dich die Strophen sehr ähnlich, bis hin zur Aneinanderreihung von so einigen "und"s am Zeilenbeginn.  ;)

So oder so eine Glanzleistung! Sehr gern gelesen und genossen!  :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: Dezember 16, 2020, 12:52:38 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Atheistisches Credo III
« Antwort #4 am: Dezember 16, 2020, 10:36:07 »
Lieber eKy! :)
Du siehst mich erröten (resp. Du siehst es nicht - aber stell es Dir bildlich vor), ob Deines höchsten Lobs! Einige Parallelen zwischen Rilkes Zeilen und meinem nichtswürdigen Versuch sind tatsächlich angedeutet, vor allem die Umkehrung im Verhältnis von Mensch und Engel bei Rilke und in der Beziehung von Mensch und Gott bei meinem Gestotter.
Ich kannte allerdings diese Verse Rilkes nicht, bin auch ziemlich sicher, sie nie zuvor gelesen, und dann vergessen und ins Unterbewusste transformiert zu haben, so dass die Anklänge wohl tatsächlich zufällig zustande kamen oder durch die Speisung aus einer gemeinsamen, noch älteren Quelle.
Ich habe zumindest Schwingungen aus den mystischen Versen von Angelus Silesius aufgegriffen ("Daß Gott so selig ist und lebet ohn Verlangen, / Hat er sowohl von mir als ich von ihm empfangen.").
Den Unterschied zwischen Hobbydichter und Genie sieht man beim Vergleich meines Gedichts mit dem von Rilke übrigens am besten bei der Wendung "und auf einmal war [...] er eine zitternde Bitte bloß" - auf so eine coole Formulierung käm ich im Leben nicht... da verneige ich mich gerne vor dem Meister! :)
LG!
S.

Erich Kykal

Re: Atheistisches Credo III
« Antwort #5 am: Dezember 16, 2020, 12:58:46 »
Hi Suf!

Auch gut - oder sogar noch besser, beweist es doch, dass du aus dir selbst geschöpft hast, und das so gut, dass du dich mit einem Rilke vergleichen kannst.

Dein allzu bescheidenes Licht-unter-den-Scheffel-Stellen mit "nichtswürdigem Versuch" und "Gestotter" kann ich nicht nachvollziehen, obgleich die selige Anne mich oft desselben Deliktes schuldig sah und entsprechend rügte. Und vergessen wir bitte nicht, dass Rilke zu Lebzeiten auch "nur" Hobbydichter war - er musste sich immer als Sektretär verdingen, um leben zu können. Selbst seine Kunst war letztlich brotlos ...

Also nur nicht GAR so bescheiden, alter Schwede!  ;) 8)

LG, eKy
« Letzte Änderung: Dezember 17, 2020, 16:41:24 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Atheistisches Credo III
« Antwort #6 am: Dezember 17, 2020, 15:17:28 »
das ist richtig klasse geschrieben, lieber Sufnus. Gott wollte die Menschen anders haben. Letztlich muss er selbst aufgeben, weil sie nicht als Engel taugen. Tolle  Formulierung" Zum Engel geglaubt,der Hund, der aus Albträumen Mondnächte beööt.
Ich würde vielleicht in Z. 2, Vers 1 schrieben: dann wurd ICH dafür zu alt. Dann hast du eine modifizierte und tolle, ironische Pointe am Ende.
Supergerne gelesen mit lG von Agneta

Sufnus

Re: Atheistisches Credo III
« Antwort #7 am: Dezember 19, 2020, 14:40:30 »
Also nur nicht GAR so bescheiden, alter Schwede!  ;) 8)

Danke für die gute Ermahnung, lieber eKy! :)
Irgendwo schlägt demonstrative Bescheidenheit doch in nervige Koketterie um... ich werde es mir hinter die Ohren schreiben und mich stärker vorsehen, dem nicht anheim zu fallen!
Also würde ich die Selbstbescheidung vielleicht in differenziertere Worte fassen: Bestimmt gelingt es mir dann und wann, Zeilen zu verfassen, die fast ein bisschen wie Rilke klingen - und darauf sollte ich auch ruhig etwas Stolz sein dürfen :) - aber dem Nachahmer fehlt halt immer der Originalitätsbonus des Vorbildes, weil Kopieren eben viel leichter ist, als etwas zum ersten Mal zu erschaffen. Und deshalb ist der Sufnus ein Kleinkünstler und der Rilke eine coole Socke! :)
So kommt es besser hin, oder? :)
LG!
S.

Sufnus

Re: Atheistisches Credo III
« Antwort #8 am: Dezember 19, 2020, 21:51:34 »
Huch... ich hatte auch zur Dir, liebe Agneta, eine Antwort verfasst, aber die ist mir irgendwie abhanden gekommen... sorry! :)
Jetzt also nochmal lieben Dank für Dein hohes, berufenes Lob! Deine Deutung gefällt mir sehr - eher Menschenkritisch als atheistisch, aber why not? :) Weil ich den atheistischen Gestus betont sehen will, werde ich auf Deine eigentlich sehr schöne und stimmige Anregung verzichten, weil sie den Akzent (finde ich) mehr in eine Reflexion über das Menschsein innerhalb eines göttlichen Rahmens verschieben würde... aber ich mags! :)
LG!
S.

Erich Kykal

Re: Atheistisches Credo III
« Antwort #9 am: Dezember 19, 2020, 21:53:51 »
Hi Suf!

Auch ein Rilke hat bestimmt Vorbilder gehabt, denen er nachzueifern gedachte, und nach denen er seine Verse klingen lassen wollte, bewusst oder unbewusst.

JEDER, der gute Gedichte schreiben kann, ist eine "coole Socke", egal wen er sich zum Vorbild erkoren hatte, als er noch eins zu brauchen dachte ...  ;)

Ermutigende Grüße, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Atheistisches Credo III
« Antwort #10 am: Dezember 22, 2020, 20:02:42 »
... danke für die Ermutigung, lieber eKy! :) Das kann die Dichterseele gebrauchen! :)
Grüße von Socke zu Socke! :)
S.