Hi Agneta!
Gute Gedanken machst du dir da! Das trifft eine der schrägen Theorien, die ich mir so nebenbei mal ausgedacht habe, natürlich ohne Anspruch auf tatsächliche Wahrheit:
Ich habe gemutmaßt, dass wir den Wert des Lebens vor allem deshalb schätzen lernten, weil wir den Wert des eigenen Lebens erfahren durften, abgesichert durch die Segnungen moderner Medizin, Hygiene und Wissen.
War früher das eigene Leben ständig bedroht durch Krieg, Hunger, Krankheit, durch Glaubensdoktrin und Aberglaube entwertet. So war es leicht, andere für Kleinigkeiten zu verdammen und hinzurichten. Und man empfand es als rechtens: Hatte man deinen Unschuldigen erwischt, hatte man dessen reine Seele bloß früher zu Gott geholfen. Das Leben des Einzelnen war nicht viel wert, natürlich außer man war reich, adelig oder mächtig!
Heute sind wir alle das, zumindest verglichen mit den Zuständen im Mittelalter! Wir leben sauberer und sicherer als jeder Reiche, Adlige oder Mächtige damals - und wie damals jene haben wir gelernt, das eigene so wohl abgesicherte Leben wert zu schätzen. Und genau dadurch fanden wir zur Prämisse, dass das Leben ALLER wertvoll sei, schafften die Todesstrafe ab, sorgten für (relative) Gleichberechtigung von Bürgern, Frauen und Kindern, machten die Barmherzigkeit für Bedürftige zur Staatsaufgabe, versicherten uns mit dem Rundum-Sorglos-Paket und fühlten uns wohl.
Aber sind wir wirklich "menschlicher" geworden im humanen Sinne? Oder möchten wir nur deshalb kein Elend sehen, um uns selbst die Illusion erhalten zu können, dass alles okay ist? Sind wir wirklich sozialer als in früheren Zeiten, oder verbergen wir uns nur hinter einer Fassade, weil wir für Wohlstand und Sicherheit bereit sind, nach gewissen Regeln zu spielen, um unserer Kultur den Anstrich (und damit die Rechtfertigung gegenüber früheren Systemen) moderner Menschlichkeit zu verleihen?
Wir tun gern so, als wären wir im Vergleich zu früher die besseren, sozialeren, höherstehenden Wesen - aber wir sind es nicht wirklich. Bedroht etwas die Illusion von der geheiligten Selbstkontrolle und dem goldenen Kalb der "freien Wahl", werden wir ganz schnell wieder zu egomanischen Raffern, Pöblern und Geiferern! Da steht uns das Eigenwohl plötzlich wieder dermaßen deutlich und für alle wahrnehmbar näher, dass die so gern gehegte Illusion zerbrechen muss. Dann regiert wieder der Starke, und der Schlaue schmiert ihm Honig ums Maul! Dann gelten wieder Parolen und einfache Welterklärungen, dann gibt es wieder "die" und "uns", und jemand besonders Bösen oder Minderwertigen, dem man für alles die Schuld geben kann!
An "alle" denken wir nur, wenn es allen gut genug geht (oder es zumindest so aussieht), wenn man nicht das Gefühl haben muss, zu kurz zu kommen. Und leider ist es so: Je länger wir uns sicher, und je sicherer wir uns gefühlt haben, wegen desto geringerer Einschränkungen beginnen wir unsere wahre Natur zu zeigen! Je gewohnter wir unsere Illusion von umfassender Ordnung waren, umso leichter werfen wir alles über Bord, längst vergessen habend, was es bedeutet, auf die über Jahrhunderte hart erkämpften Rechte zu verzichten. Erschreckend, wie wenig Angst genügt, um eine Zivilisation zu kippen, weil die kleine, persönliche Welt eben immer noch jederzeit wichtiger ist als die große Gerechtigkeit und Gleichstellung für alle!
Kleine Geister ziehen kleine Kreise um sich, befangen im Irrtum, dass der Kreis stabiler und undurchdringlicher sei, je enger sie ihn ziehen!
Sehr gern, aber inhaltlich mit großem Bedauern gelesen!
LG, eKy