Autor Thema: Das kleine Stück Welt  (Gelesen 643 mal)

Agneta

  • Gast
Das kleine Stück Welt
« am: November 20, 2020, 11:20:39 »
Das kleine Stück Welt

Geschäftig legt sich der Morgen über die Stadt. Mein Zigarettenrauch kräuselt sich im Wind. Verknotet sich vor der Balkonbrüstung. Formiert sich zur Säule wie ein Geist, dem jemand die Flasche geöffnet hat. Er treibt nicht fort. Beinahe so, als hielte ihn jemand fest.
Ich schaue in den kleinen Ausschnitt Welt, den der Balkon mir bietet. Es regnet.
Bei Regen scheinen die Autos auf der nahen Straße lauter zu sein. Erzeugen ein eigenartiges Schleifen auf dem Asphalt. Von ferne hört man das Rattern eines Zuges. Bei Regen ist alles lauter.
Kinder kreischen. Durch die unbelaubten, nackten Bäume sehe ich, dass sie zur Schule gehen. Sie tragen Masken. Wegen Corona. Erwachsene passieren. Sie tragen keine Masken.
Einige Kinder streiten, beschimpfen sich. Oder den Regen. Oder irgendwen. Bei Regen ist alles lauter, aber ich verstehe sie nicht. Ich spreche ihre Sprache nicht.

Am Abend sitze ich auf der Couch und schaue in den kleinen Ausschnitt Welt des Fernsehers. Ich sehe den Lügner, den siebzig Millionen Menschen in Amerika zum Präsidenten haben wollten. Ich sehe Diktatoren, die ihre Bürger drangsalieren, Kriege, Hurrikans.  Der Regen trommelt an meine Fensterscheiben und ich denke an meine Nachbarn, die Dinge über andere verbreiten, die nicht stimmen. Ich gehe auf den Balkon, um zu rauchen, schaue in den Regen und schweige.
Der Hund tappst durch die Pfützen auf den Fliesen und setzt sich neben meinen Stuhl. Obwohl der Wind den Regen auf den Balkon weht. Obwohl er Regen nicht mag. Auf der Straße keifen sich Hunde beim Abendspaziergang an. Schrill, anhaltend. Niemand unterbindet es. Meiner schaut mich fragend an und ich schüttele den Kopf.
Mein Zigarettenrauch kräuselt sich bis hin zu den tiefroten Spitzen der Erika in den Balkonkästen. Fliegt über sie hinweg. Lautlos. Fliegt davon. Unsichtbar, in eine unsichere Nacht.




gummibaum

Re: Das kleine Stück Welt
« Antwort #1 am: November 20, 2020, 12:16:00 »
Liebe Agneta,

das gefällt mir.

Schön skizziert ist die beschränkte Welt, in die über Balkon und Fernseher nichts Freundliches dringt. Nur Hund und Zigarettenrauch stehen der Protagonistin zur Seite. Und während der Letztere sich anfangs nicht losreißen kann, begibt er sich am Ende in die nasse und feindliche Außenwelt.

Sehr gern gelesen.
Grüße von gummibaum   

Erich Kykal

Re: Das kleine Stück Welt
« Antwort #2 am: November 20, 2020, 15:24:32 »
Hi Agneta!

Da schwingt vieles mit. Und ich pflichte bei. Einzig die Erwähnung, dass der Protagonist die Sprache der schimpfenden Kinder nicht versteht, hat mich ein wenig gestört. Es mag ein schlichter Fakt sein, aber die ERWÄHNUNG an sich ist es, die ihm eine möglicherweise leicht rassistisch oder flüchtlingsfeindlich anmutende Metaebene unterlegt.

Ich kenne dich so weit, dass ich eine böse Absicht dahinter ausschließe, es geht hier nur um die Wirkung dieser Erwähnung an sich. Was denkt der Leser wohl dabei? Genau - WARUM wird das hier jetzt so deutlich erwähnt? Und dann parkt man meist schon bei der nächstbesten und naheliegensten Erklärung: Den Autor stört, dass in Deutschland auf offener Strasse Fremdsprachen gesprochen werden! Und dann fragt man sich: Warum stört ihn das? Und schon ist man bei Vorurteilen. Der patriotische Rechtsnationale wird sich begeistert auf diese Textstelle stürzen und sie feiern, doch der liberale Gutmensch wird sich zumindest leicht peinlich berührt fühlen. "Muss das sein, dass das so erwähnt wird, als spielte es eine wesentliche Rolle unter all den anderen sozialkritischen Bildern und Andeutungen des Werks?

Natürlich kann der Autor jederzeit anmerken, dass das einfach Teil der Szene war, die er authentisch schildern wollte, und daran sei nichts Verwerfliches. Schließlich liege die Deutungshohheit ja beim Leser, und das ist natürlich korrekt. Dennoch bleibt ein fader Nachgeschmack, auch wenn es nie negativ gemeint war vom Autor. Andere werden es negativ und in ihrem Sinne auslegen, sich ein Stück mehr bestätigt fühlen und die Regierung weiter dahin drängen, doch bitte noch mehr arme Schweine im Mittelmeer ersaufen zu lassen oder in Lager zu sperren, die mancher Bauer seinem Vieh nicht antun würde!

Siehst du - all diese Gedanken kamen mir nur wegen dieser einen so unschuldig wirkenden Erwähnung, dass das LyrIch die Sprache der sich beschimpfenden Kinder nicht spricht. Was würde ein Extremist wohl damit anstellen können?

Abgesehen von dieser einen Stelle sehr gern gelesen!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Das kleine Stück Welt
« Antwort #3 am: November 20, 2020, 17:29:20 »
Das mangelnde Sprachverständnis signalisierte für mich lediglich, dass der Hörer schon alt und ihm die derzeitig Kinder- und Jugendsprache nicht  geläufig ist.


Agneta

  • Gast
Re: Das kleine Stück Welt
« Antwort #4 am: November 20, 2020, 18:48:46 »
Ehrlich, Erich, man kann sich auch so  fixieren auf ein Thema, dass man nur noch in Scheuklappen denkt. Die kleine begrenzte Welt, in die uns Corona, das Alter oder der regen zwingt, hat viele Facetten, die uns das "quasi Ausgeschlossensein" signalisiert. Und darum geht es.
Ein alter Mensch  kann sich durchaus ausgeschlossen und ausgegrenzt fühlen, wenn im Supermarkt um ihn herum nur noch Sprachen gesprochen werden, die er nicht versteht. Und dies ohne Rassist zu sein. Ich frage mich allerdings, weshalb die Menschen, die zu uns kommen, nicht deutsch sprechen. Ist das auch rassistisch, wenn man die Sprache des Landes nicht spricht, obwohl man dort versorgt wird und Heimat finden will, Erich?
Ist es auch rassistisch, wenn man es nicht ok findet, dass eine Gruppe junger Schüler nach der Schule durch die Straße zieht und Allahu Akbar gröhlt, wo gerade zuvor in Frankreich ein Lehrer von Terroristen enthauptet wurde? Ist nicht irgendwo mal Schluss mit Toleranz?

Meine Kurzprosa hatte nichts Böses im Sinn, aber deine sehr einseitige Lesweise in Richtung Rassismus geht mir etwas auf den Keks. Sie vermurkst hier ein gutes Stück Prosa, das eine völlig andere Intention hatte. Und darum reizen mich deine Worte zur Gegenwehr. Die deine Vermutung nun natürlich nur bekräftigen werden.

Lieber Gum, ja, auch deine Lesweise der Stelle könnte zutreffen, schrieb ich doch einmal ein Gedicht "Esperanto". Könnte mich jetzt rausreden, tu ich aber nicht, weil ich zu dem stehe, was ich schreibe. Danke euch beiden und lG von Agneta
« Letzte Änderung: November 20, 2020, 18:51:30 von Agneta »